Essen. Der Kanzler lädt zum Gespräch: Olaf Scholz stellt sich in Essen den Fragen der WAZ-Leserinnen und -Leser. Er lernt: Die Sorgen sind groß
„Schönen Dank, dass Sie gekommen sind“, sagt Olaf Scholz zu Beginn. Und dass solche Termine zu den liebsten gehören, die er wahrnimmt. Das heißt hier: Der Kanzler spricht mitten im Ruhrgebiet, auf dem Zollverein-Gelände, 90 Minuten lang mit 150 Leserinnen und Lesern der WAZ.
"Wohlstand kommt von Arbeit"
Mit offenem Hemdkragen und freundlichen Worten für die Region startet Scholz in sein drittes „Kanzlergespräch“. Er finde Industrie-Architektur schön, sagt er. Zeige sie doch, „dass Wohlstand von der Arbeit kommt.“ Dass der Bundeskanzler das Ruhrgebiet am 1. September besucht, gibt seiner Visite eine besondere Note. Der Tankrabatt ist jetzt Geschichte, ebenso das Neun-Euro-Ticket. Fortsetzung offen. Meteorologisch beginnt der Herbst, eine Jahreszeit, die wegen der explodierenden Energiekosten und möglicher Pandemierisiken diesmal als bedrohlich empfunden wird. All diese Schatten und Sorgen begleiteten den Kanzler-Besuch in Essen.
Kritische Fragen und Sorgen um den Sozialstaat
„You’ll never walk alone“ (Wir werden niemanden allein lassen), das Kanzler-Versprechen, die Menschen in dieser Krisenzeit nicht allein zu lassen, mag hier, auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zollverein, an die Solidarität der Kumpel erinnern. Aber glauben die Leute, dass Scholz dieses Versprechen wirklich einlösen kann? Nicht jeder glaubt es gleich. „Was wollen Sie gegen die soziale Ungleichheit tun, für Arbeitnehmer und Rentner, deren Einkommen kaum zum Leben reicht?“, fragt zum Beispiel Sigrid Marwig aus Gladbeck. „Warum habt ihr bei der Energiekostenpauschale die Rentner komplett vergessen“, will ein Herr wissen.
Beate Mientges aus Duisburg, früher Förderschul-Lehrerin, macht sich angesichts der vielen Krisen Sorgen, dass das reiche Deutschland womöglich die Sozialstandards nicht mehr halten kann. Kinder- und Altersarmut nähmen bedrohlich zu. Marianne Malkowski, ehrenamtliche Richterin aus Gelsenkirchen, ist gekommen, um dem Kanzler zu sagen, dass die Sozialgesetze zu kompliziert und daher „nicht menschenfreundlich“ seien. Annegret Thomas aus Essen treiben die steigenden Pflegekosten um: „Mir graut davor, dass ich vielleicht mal in ein Heim muss.“
Scholz lässt sich nicht tief in die Karten schauen
Olaf Scholz ist bekanntlich keiner, der sich tief in die Karten schauen lässt. Mit Gleichmut und ruhiger Stimme beantwortet er Fragen, meistens, ohne ins Detail zu gehen. Was im geplanten dritten Entlastungspaket stecken wird, bleibt sein Geheimnis. Seine Regierung werde „alles Mögliche tun“, sagt er nur. Und dass er wisse, dass die bisherigen Hilfen – Heizkosten-Zuschuss, Wohngeld, Tankrabatt – nicht reichten. An einer Stelle lässt der Kanzler Einblicke ins Private zu. Als Stefan Erdmann aus Essen wissen möchte, ob die Betreiber von Fitness-Studios im Winter erneut von Schließungen bedroht sein werden, lobt Scholz jene, die Sport treiben. Bei ihm selbst sei das „nicht so einfach“ gewesen. „Meine Frau hat mich mit 40 streng angeguckt und gesagt: So geht das nicht weiter.“ Und so habe er mit dem Laufen begonnen.
Freundlich ist die Stimmung In der ersten Etage des würfelförmigen Sanaa-Gebäudes auf Zollverein, aber nicht überschwänglich. Nur ein paarmal erntet Scholz Applaus. Zum Beispiel, als er auf die Sorgen von Bernhard Funke aus Duisburg reagiert, der befürchtet, dass Waffenlieferungen in die Ukraine einen großen Krieg provozieren könnten und als eine Dame fragt: „Wie wollen Sie es schaffen, dass wir aus diesem Militarismus wieder rauskommen?"
Krieg und Frieden
„Wir achten darauf, dass es nie einen Krieg zwischen Russland und der Nato geben wird“, verspricht Scholz. Die militärische Hilfe für die Ukraine begründet er so: „Wenn wir es nicht täten, hätte es furchtbare Konsequenzen. Wer garantiert uns, dass es dann nicht den nächsten Angriff gibt?“ Eine Mehrheit im Saal sieht dies genauso.
Zum Schluss lobt der Kanzler die Gesprächskultur in Essen, die dem ganzen Land guttun würde, bedankt sich für eine „spannende Diskussion“ und sagt Tschüss. Wer möchte, darf mit ihm ein Selfie machen. Ort und Termin für das nächste Kanzlergespräch stehen noch nicht fest.