Düsseldorf/Essen. Rechtsextreme, radikale Linke, religiöse Eiferer und „normale Bürger“ protestieren. Experten warnen vor Angriffen auf die Demokratie.
Der Protest gegen die Pandemiebeschränkungen weitet sich aus. Weil sich unter die Demonstranten zunehmend Extremisten und Anhänger von Verschwörungstheorien mischen, warnen Wissenschaftler wie der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick und die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vor einer ernsten Gefahr für die Demokratie in Deutschland.
„Für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist das eine bedrohliche Entwicklung“, sagte Zick dieser Redaktion. Politik und Öffentlichkeit reagierten zum Teil ratlos auf die aufkommenden Verschwörungsmythen. „Wir müssen einen Weg finden, darauf zu reagieren“, so Zick. Zwar habe es schon vor der Pandemie eine Spaltung der Gesellschaft gegeben. „Aber wir müssen uns jetzt nicht wundern, wenn sich radikale Gruppen weiter radikalisieren, also aggressiver und gewaltorientierter werden, sich verbinden und zeigen.“ Auf einmal sei es möglich, Tausende Menschen auf die Straße zu bringen, um einen vermeintlichen „Widerstandsakt“ – auf Kosten der Gesundheitsprävention – gegen „das System“ zu äußern.
„Da werden Freiheiten missbraucht“
„Es ist das gute Recht, für Freiheitsrechte zu protestieren. Aber am Wochenende haben wir Demos gesehen, in denen es überhaupt nicht darum ging, eine Diskussion anzustoßen, sondern nur ums Zuspitzen“, warnte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Die Liberale spricht von zum Teil „unverantwortlichen“ Szenen: „Ohne Maske, ohne Abstand, ohne die wichtigen Sicherheitsauflagen einzuhalten. Wer sich so bewusst über den Infektionsschutz hinwegsetzt, der wird das Ziel ,mehr Freiheit’ eben nicht erreichen“, so die FDP-Politikerin. Wenn das so weite gehe, würden künftig eher weniger Versammlungen genehmigt werden können: „Da werden die Freiheiten, die es trotz der Krise in unserem Land gibt, missbraucht.“
Der Düsseldorfer Rechtsextremismus-Forscher Alexander Häusler weist darauf hin, dass sich bei diesem Protest berechtigte Forderungen, „weil Menschen Existenzängste haben und um Freiheitsrechte fürchten“ und radikale Ziele mischten: „Es gibt unter den Demonstranten viele Akteure aus dem rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Spektrum, und wir beobachten eine große Melange aus Verschwörungstheorien und simpelste Zuspitzungen wie ,Kitas bleiben geschlossen, die Bundesliga darf spielen’“.
Vertrauen in die politische Steuerung sinkt
„Unsere und viele andere Studien zeigen, dass das Vertrauen in eine koordinierte politische Steuerung sinkt“, berichtet der Sozialpsychologe Andreas Zick. Eine Befragung von mehr als 3100 Menschen durch das „Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ der Uni Bielefeld unter seiner Leitung während der ersten beiden Wochen der Corona-Einschränkungen ergab, dass zu Beginn die Zustimmung zu den Maßnahmen mit über 70 Prozent sehr hoch war. Aber diese Werte sanken, zugleich wuchs die Zustimmung zu Verschwörungstheorien.
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Knapp ein Viertel der Befragten glaubten, dass Medien und Politik wichtige Informationen verschweigen würden. Jeder Zehnte stimmte der Aussage zu, es gebe „geheime Organisationen“, die während der Krise Einfluss auf politische Entscheidungen ausübten.
Teilnehmer der Proteste sind eine „bunte Mischung“
Konfliktforscher Zick bezeichnet die Teilnehmer der Proteste als „Querfront“. „Das heißt, sie sind nicht eindeutig einem rechtspopulistischen oder rechtsextremen Milieu zuzuordnen, obwohl diese sehr stark die Netzwerke und die Propaganda antreiben.“ Darunter seien auch Prominente wie Attila Hildmann, ein veganer Koch aus Berlin, oder Ken Jebsen, ein ehemaliger Moderator. Sie propagierten Widerstand gegen „das System“. Dazu kämen Einzelpersonen oder Gruppen, „die sich dort mühelos einreihen können“, zum Beispiel Rechtsextreme, Pegida-Anhänger oder Teile der Anti-Flüchtlingsgruppen, die schon zuvor aktiv waren.
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Dazu gesellten sich radikale Linke und christlich-sektiererische Gruppen, die mit Bibelzitaten vor dem Untergang warnten. Am Rande seien auch „ganz normale Bürger“ unter den Demonstranten zu finden, die die Einschränkung der Freiheitsrechte kritisieren. Ein Teil der Demonstranten strebe einen radikalen Umbruch der Gesellschaft an. „Es ist eine bunte Mischung, die sich in wenigen zentralen Ideologien verbindet. Das alles war schon Monate vor der Pandemie vorhanden und kann jetzt abgeholt werden.“
Ein Versuch, die Gesellschaft zu spalten
Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnt vor Kräften von Rechts- bis Linksaußen, die versuchten, aus den Sorgen von Bürgern politisch Kapital zu schlagen. Dadurch gefährdeten sie „insgesamt die Möglichkeit, für Freiheitsrechte zu demonstrieren, weil sie angemessene Infektionsschutz-Regeln einfach missachten“, sagte Schnarrenberger, die auch Antisemitismus-Beauftragte des Landes NRW ist. Neu sei dieses Vorgehen nicht. „Wir kennen das vor der Hetze gegen Juden und Muslime. Hier wird erneut versucht, die Gesellschaft zu spalten“.
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Zu den Aufsteigern in der Protestbewegung gehört „Widerstand 2020“. Die Gründer – der Jurist Ralf Ludwig und der Mediziner Bodo Schiffmann – sprechen von einer neuen „Partei“ mit bis zu 100.000 Mitgliedern und von dem Ziel, bestehende Machtstrukturen aufzulösen. Beobachter zweifeln die Mitgliederzahlen an. Der Rechtsextremismusforscher Alexander Häusler hält „Widerstand 2020“ nur für eine „selbst erklärte Partei ohne echte Parteistrukturen“.
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Viel mehr als diese Szene könne die AfD ein Profiteur in dieser Krise sein, so Häusler: „Diese Partei hat eine propagandistische 180 Grad-Wende hingelegt, von einer in der Coronakrise eher moderaten Haltung hin zum Skandalisieren der Corona-Maßnahmen. Sie spielt sich auf als angebliche Partei für Freiheitsrechte.“
Leutheusser-Schnarrenberger sieht das ähnlich: „Ich beobachte mit Sorge, dass die AfD jetzt wieder versucht, Menschen mit dem rechtspopulistischen Instrumentarium für sich zu gewinnen, indem von ,denen da oben’ geredet wird.“
>>>> Mächtiges Feindbild Bill Gates
Immer wieder wird zur Zielscheibe der Corona-Proteste. Nach Angaben Andreas Zick ist er ein geeignetes Feindbild für Verschwörungsiodeologen. „Multimilliardäre wie Bill Gates, die auch noch für Impfungen sind, die also den Körper beherrschen wollen, eignen sich sehr gut.“
Wenn der Feind so mächtig ist, befördere dies die Zustimmung und die Eingliederung in die Verschwörungsgemeinde. „Zudem können über das Feindbild Bill Gates sehr gut Impfgegner und radikal-religiöse Splittergruppen aktiviert werden“, so der Sozialpsychologe.