Essen. Vor 50 Jahren wurden Universitäten in Essen und in Duisburg gegründet. Sie trieben den Wandel des Ruhrgebiets mit einem klaren Auftrag voran.
Das war einmalig in der Geschichte Nordrhein-Westfalens: Vor 50 Jahren pflanzte die Landesregierung Hochschulen wie Tulpenzwiebeln in die Städte und erhoffte sich alsbald blühende Bildungslandschaften: Am 1. August 1972 wurden unter dem Motto „gleiche Bildungschancen für alle“ in Essen, Duisburg, Paderborn, Siegen und Wuppertal Gesamthochschulen gegründet. Wir sprachen mit dem Bochumer Historiker Prof. Stefan Berger, Vorsitzender der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets, über diese Aufbruchszeit.
Die Uni Essen wurde ausgerechnet auf dem Gebiet eines ehemaligen Arbeiterviertels errichtet, im Segeroth, Essens „wildem Norden“. Welche Signalwirkung hatte das?
Stefan Berger: Ob dies ein bewusst gewähltes Signal war, ist mir nicht bekannt. Aber es ist ein sehr schönes Zeichen. Dort, wo früher Kohle- und Stahlarbeiter gelebt und gearbeitet haben, steht nun eine Universität. Das symbolisiert wunderbar den Wandel im Ruhrgebiet von der Arbeiter- zur Wissensregion. Und es ist zudem ganz passend für den Bildungsauftrag der Revier-Hochschulen, die mehr als andere Universitäten Studierende ausbilden, die aus dem Arbeitermilieu kommen und als erste in ihren Familien studieren.
Welche politischen Motive gab es für die beispiellose Gründungswelle?
Das lässt sich als eine Reaktion auf die Debatte um den sogenannten Bildungsnotstand in Deutschland in den 1960er-Jahren verstehen. Nur wenige junge Menschen erreichten das Abitur, die Schulen waren schlecht ausgestattet, es fehlten Lehrkräfte, an den Hochschulen gab es kaum Arbeiterkinder. Das wurde als Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und die Demokratie diskutiert. Deutschland brauchte mehr Fachkräfte, um die Modernisierung zu meistern und den Strukturwandel anzugehen.
Das galt auch für das Ruhrgebiet?
1972 war der Gedanke des Strukturwandels sicher mitentscheidend für die Gründungen der Hochschulen. Bochum hatte bereits seit 1965 eine Universität, Dortmund folgte drei Jahre später. Auch die alte Rivalität zwischen Dortmund und Essen spielte sicher eine Rolle, die Stadt wollte nicht zurückstehen.
Warum wurden nicht Universitäten, sondern Gesamthochschulen gegründet?
Das lag im Trend der Zeit. Man wollte andere Formen der Hochschulbildung etablieren und den Zugang zum Studium erleichtern. Das Reformmodell sollte den Zugang zum Studium für breitere Schichten öffnen und Bildungsreserven heben. Auch junge Menschen ohne Abitur sollten eine Chance erhalten. Dahinter stand auch die Frage nach einer Demokratisierung und Modernisierung der verkrusteten Universitäten. Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren – das war ja der Slogan der 68er-Bewegung.
Das Konzept Gesamthochschule hat sich nicht bewährt?
Die Hochschulen klagten, dass sie nie eine vergleichbare Ausstattung erhalten hätten wie eine Voll-Universität. Als die Euphorie der Reformbestrebungen verflogen war, war der Wunsch nach Prestige und Renommee ein Grund für die Umwandlung in Universitäten. Auch das war wohl einem Zeitgeist geschuldet, der wieder mehr auf klassische Bildungsideale setzte.
Das sozialdemokratische Schlagwort vom Aufstieg durch Bildung begleitete die Hochschulgründungen. Hat sich das bewahrheitet?
Ja, in gewisser Weise schon. Das Ziel der Bergleute und Stahlarbeiter war, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollten und nicht unter Tage oder im Stahlwerk arbeiten müssen. Die Hochschulen versprachen einen sozialen Aufstieg. Bis heute kommt ein großer Teil der Studierenden aus Nicht-Akademiker-Haushalten in der Region. Doch das Versprechen ist noch nicht vollständig eingelöst. Wir schaffen es immer noch nicht, genügend junge Leute aus bildungsfernen Schichten zur Hochschulreife zu bringen.
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Was haben die Hochschulen im Ruhrgebiet bewirkt?
Die Hochschulgründungen schreiben die größte Erfolgsgeschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Heute verfügt die Region über eine Hochschullandschaft, die europaweit ihresgleichen sucht. Das ist eine ungeheure Bildungsschmiede, die jedes Jahr viele hervorragend ausgebildete Absolventen hervorbringt. Die Hochschulen sind zudem ein eigener Wirtschaftsfaktor und haben zahlreiche Arbeitsplätze und Ausgründungen geschaffen. Für die Zukunft der Region sind die Hochschulen absolut zentral.
War die Fusion zur Uni Duisburg-Essen im Jahr 2003 unausweichlich?
Ich denke, dahinter steckte auch die Idee, dass man für akademische Qualität auch eine gewisse Größe benötigt. Durch die Zusammenführung sollten die Hochschulen gemeinsam stärker werden. Das hat sich meines Erachtens auch bewahrheitet und wird ja mit der Hochschulallianz Ruhr, in der sich die Unis Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen zusammengeschlossen haben, fortgeführt.
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Werden wir somit weitere Uni-Fusionen erleben?
Das ist offen. Klar ist aber, dass es für die Universitäten eine Aufgabe der Zukunft ist, sich weiter zu vernetzen. Dafür braucht man nicht ein Rektorat für alle. Wir werden jedenfalls eine stärkere Integration der Wissenslandschaft im Ruhrgebiet sehen, denn Kooperationen über die Grenzen von Institutionen hinaus, sind oftmals fruchtbar für alle. Das ist übrigens auch eine Parallele zum Ruhrgebiet: Wir brauchen nicht eine große Ruhrstadt, sondern gute Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Städten.
Wieso zeigt das Ruhrgebiet verglichen mit klassischen Uni-Städten wie Köln, Aachen oder Münster so wenig Stolz auf seine Hochschulen?
Lange fremdelten die Stadtgesellschaften mit dem akademischen Milieu. Universitäten gehörten nie zum Selbstbild des Ruhrgebiets, das bis heute seine Montangeschichte pflegt. Auch die damals meist sozialdemokratischen Oberbürgermeister fühlten sich eher den Gewerkschaften und der Arbeiterschaft verbunden als Professoren und Studenten. Aber es gab einen Annäherungsprozess. Und je mehr die Erfolge sichtbar werden, desto mehr wird den Städten klar, welchen Schatz sie besitzen. Viele Städte haben das begriffen und verstehen sich heute als Bildungsorte.
Wie hat sich die Uni Duisburg-Essen seit 1972 entwickelt?
Hervorragend. Sie ist in vielen Bereichen sehr gut aufgestellt und spielt auch international eine wichtige Rolle. Sie ist exzellent in der Spitze und erfüllt in der Breite ihrem Bildungsauftrag in der Region. Die Revierunis treiben nicht nur wissenschaftliche Exzellenz voran, sie sorgen auch für eine gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Dynamik. Die Uni Duisburg-Essen ist ein solcher Motor.
Zeichen für einen Tiefgreifenden Wandel
Die Gründung von gleich fünf Gesamthochschulen im Jahr 1972 war ein beispielloser Ausbau der Hochschullandschaft in NRW. Vorangetrieben wurde er von Johannes Rau in seiner Amtszeit als SPD-Wissenschaftsminister (1970 bis 1978) und von Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD). Zuvor war bereits 1965 die Ruhr-Uni Bochum als erste große Universitätsneugründung Deutschlands nach dem Krieg eröffnet worden, 1968 folgte die Uni Dortmund. 1975 wurde schließlich in Hagen die einzigartige Fern-Uni gegründet - mit derzeit gut 72.000 Studierenden Deutschlands größte Uni.
Die Hochschulen waren Zeichen für einen tiefgreifenden Wandel der Region. Zechen und Hochöfen prägten noch in den 60er-Jahren das Bild: Bis 1965 gab es kaum Studierende im Revier, heute lernen an den Unis, Fachhochschulen und Musikhochschulen rund 200.000 Menschen.
Die Uni-Fusion als „Himmelfahrtskommando“
Während sich im Essener Norden die Kräne für den Bau der neuen Uni drehten, entstanden in Duisburg-Neudorf nahe des Zoos die typischen runden „Keksdosen-Bauten“, die sich nach und nach zum Campus formten. Zwar wurde in Duisburg bereits 1655 eine Universität gegründet, die vor der Industrialisierung für den Nachschub an reformierten Pfarrern und höheren Beamten sorgte. Wegen unzureichender Auslastung wurde sie 1818 geschlossen. Bis in Duisburg erneut Studierende einen Hörsaal betreten konnten, sollten gut 150 Jahre vergehen.
Ein von der Landesregierung berufener Expertenrat empfahl 1999 die Fusion der beiden Universitäten. Die Rektorate wehrten sich heftig. Im Zuge des auch vor Gerichten ausgetragenen Streits um Macht, Geld, Einfluss und Fächerverteilung wurde in Essen mit Ursula Boos-Nünning eine der wenigen Uni-Rektorinnen Deutschlands gestürzt. Dennoch wurde am 1. Januar 2003 auf Druck des Landes die Fusion zur Universität Duisburg-Essen vollzogen.
Lothar Zechlin aus Graz übernahm das „Himmelfahrtskommando“ als erster Rektor. Als Ulrich Radtke 2008 das Amt übernahm, konnte er sich darauf konzentrieren, eine weitgehend befriedete Doppel-Uni in eine erfolgreiche Zukunft zu führen.