Essen. Abwasseranalysen in Klärwerken gelten als gutes Corona-Frühwarnsystem. Die Wasserwirtschaft steht bereit, wartet aber auf ein Signal der Politik.
Den Corona-Daten kann man nicht mehr trauen. Infektionszahlen und Inzidenzen haben an Aussagekraft verloren, da viele Infizierte keinen PCR-Test mehr machen. Doch nur positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Experten vermuten daher eine hohe Dunkelziffer unter den Corona-Infizierten, die durch das Raster des Meldesystems der Gesundheitsämter und des Robert-Koch-Instituts rutschen.
Mit Blick auf eine drohende Corona-Welle im Herbst fordern Wissenschaftler und Mediziner daher eine Ausweitung des Abwasseranalysen in den Kläranlagen der Städte. Denn im ungeklärten Abwasser lassen sich Bestandteile der Viren sowie neue Corona-Varianten frühzeitig nachweisen. Dadurch lasse sich zeitnah erkennen, ob die Corona-Pandemie wieder an Fahrt aufnimmt oder sich abschwächt. Frei nach dem Motto: Nicht alle lassen sich testen, aber jeder muss zur Toilette.
Die Wasserwirtschaft steht bereit
Die Wasserwirtschaft signalisiert: „Wir sind bereit und können das ab Herbst in unseren Anlagen umsetzen, wenn die Politik grünes Licht gibt“, sagt Prof. Uli Paetzel, Chef von Emschergenossenschaft und Lippeverband dieser Zeitung. Ein flächendeckendes Abwassermonitoring wäre nach seiner Ansicht ein sehr gutes Frühwarnsystem, mit dessen Hilfe die Politik rechtzeitig Maßnahmen gegen die Pandemie ergreifen könne. Bisherige Messreihen hätten gezeigt: „Mit unseren Analysen liegen wir eine Woche vor der Welle.“
Schon seit Beginn der Corona-Pandemie beklagen Experten die dünne Datenlage. „Wir haben nach zweieinhalb Jahren leider immer noch ein zu ungenaues Bild über das Infektions- und Erkrankungsgeschehen“, sagt Prof. Ralph Brinks, Epidemiologe an der Uni Witten/Herdecke. „Abwassermonitoring erlaubt bei durchdachter Planung eine schnelle und kostengünstige Ergänzung unserer Wissensbasis zur Pandemie.“
Virologe: Neue Virus-Varianten entdecken
Das Verfahren biete die Möglichkeit, frühzeitiger als die Inzidenzen aus der offiziellen Meldekette zu informieren, sagt Brinks. Auch wenn es schwierig sei, aus der Konzentration von Virenbestandteilen im Abwasser konkret auf die Inzidenz eines Stadtteils zu schließen, erhielte man dennoch ein Bild über das tatsächliche Infektionsgeschehen. Brinks rät zu einer Ausweitung des Abwassermonitorings in NRW: „Als Wissenschaftler kann ich eine Datensammlung nur befürworten.“
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Der Essener Chef-Virologe Prof. Ulf Dittmer schließt sich diesem Appell an. Abwassermonitoring sei „ein sehr gutes Instrument. Es ist völlig unabhängig davon, ob sich Menschen testen lassen oder nicht.“ Inzwischen funktioniere die Erfassung von Neuinfektionen über die Gesundheitsämter und das RKI faktisch nicht mehr. „Abwasseruntersuchungen könnten hier verlässlichere Werte liefern“, so Dittmer.
Geringer Aufwand, niedrige Kosten
Zwar erhalte man dadurch keinen Wert, wie viele Menschen genau infiziert sind. „Man sieht aber sehr schnell, ob Infektionen mehr oder weniger werden“, so der Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Essen. Darüber hinaus sei das System „besonders gut geeignet“, neue Varianten frühzeitig zu entdecken.
Die Experten beklagen mit Blick auf eine mögliche nächste Corona-Welle die Zögerlichkeit der Politik. Andere Städte und Länder seien bereits weiter „während wir lediglich Modellvorhaben verfolgen“, sagt Uli Paetzel, der als Präsident des Dachverbands der Deutschen Wasserwirtschaft DWA für die gesamte Branche spricht. „Die Rede ist von rund 800 größeren Anlagen in Deutschland. Wir können der Politik anbieten, ab Herbst Daten zu liefern.“ Damit wären die Einzugsgebiete von rund 80 Prozent der deutschen Bevölkerung abgedeckt. Und das zu vergleichsweise niedrigen Kosten. Paetzel geht von Aufwendungen für Proben und Analysen in Höhe von etwa 10.000 Euro pro Jahr und Kläranlage aus.
Daten bis auf Ebene von Stadtquartieren
Im Ruhrgebiet untersuchen die beiden großen Wasserverbände des Ruhrgebiets bereits seit Mai 2020 an nunmehr sechs Kläranlagen das Abwasser auf Spuren des Corona-Virus: in den Kläranlagen Emscher-Mündung, Duisburg Alte Emscher, Bottrop, Dortmund-Deusen, Dortmund Scharnhorst sowie Dinslaken. Allein durch die Klärwerke im Ruhrgebiet könne das Einzugsgebiet von 2,4 Millionen Menschen kontrolliert werden. Analysiert werden die Proben im Kooperationslabor von Emschergenossenschaft, Lippeverband und Ruhrverband in Zusammenarbeit mit dem Institut für Medizinische Virologie des Uni-Klinikums Frankfurt.
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Laut Paetzel habe sich das Testverfahren bewährt: „Wir sehen, dass wir gut eine Woche vor dem Trend liegen.“ So konnten die beteiligten Forscher bereits Anfang Juni feststellen, dass sich die neuen Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 als vorherrschend durchgesetzt hatten. Würde man zusätzlich auch kleinere Anlagen in das Monitoring einbeziehen, könne man je nach Ausbau valide Daten für das gesamte Ruhrgebiet bis hinunter auf Quartiersebene erhalten, sagt Paetzel.
Land fördert 16 Modellstandorte
Die NRW-Landesregierung verweist darauf, dass sich in NRW bereits 16 Standorte an dem bundesweiten Abwasser-Pilotvorhaben beteiligen. „Diese Standorte decken 29,6 Prozent beziehungsweise 5,4 Millionen der etwa 17,9 Millionen Einwohner in Nordrhein-Westfalen ab“, teilt das Gesundheitsministerium mit. Von einer Ausweitung des Verfahrens auf weitere Standorte in NRW spricht das Ministerium nicht. Zunächst gehe es in der Pilotphase um die Optimierung von Datenerhebung und Dateninterpretation. „Gleichwohl wird der Ansatz verfolgt, das Abwassermonitoring für den kommenden Herbst/Winter als sehr grobes Frühwarnsystem zu berücksichtigen.“
Den Fachleuten geht das offenbar nicht schnell genug. „Das Abwassermonitoring eignet sich ausdrücklich als Corona-Frühwarnsystem“, ist Uli Paetzel überzeugt. „Das muss ausgeweitet werden.“ Bund und Land müssten jetzt Entscheidungen treffen.
>>>> Das Modellprojekt
Am bundesweiten Pilotvorhaben zum Abwassermonitoring nehmen 48 Standorte teil, in NRW sind es 16 Anlagen: Vier durch das Land geförderte Modellstandorte (Borken, Düsseldorf, Gütersloh, Waldbröl), drei durch den Bund geförderte Anlagen (Bonn, Dinslaken, Köln), sowie neun weitere durch das Bundesforschungsministerium unterstützte Anlagen (Aachen-Soers, Bottrop, Duisburg Alte Emscher, Emschermündung, Eschweiler, Dortmund-Scharnhorst, Dortmund-Deusen, Mönchengladbach, Wuppertal).
Die vier vom Land geförderten Standorte finanziert die Landesregierung bis Frühjahr 2023 mit insgesamt 240.000 Euro. Anhand des Pilotbetriebs soll nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums zunächst die praktische Umsetzung des Abwassermonitorings erprobt werden, „um frühzeitig Trends der Coronavirus-Pandemie zu erkennen“. Anschließend soll überprüft werden, ob und wie das Abwassermonitoring als Frühwarnsystem eingesetzt werden kann.