Essen/München. Wie konnte Missbrauch im Bistum Essen lange ungesühnt bleiben? Warum wurden die Opfer im Stich gelassen? Eine neue Studie geht den Fragen nach.
Das Bistum Essen will „alles aufdecken, was Missbrauch begünstigt hat“, hatte Bischof Franz-Josef Overbeck versprochen. Eine grundlegende Studie soll dies leisten und klären, warum die Täter von der Kirche gedeckt und die Opfer sexualisierter Gewalt im Stich gelassen wurden. Für die Untersuchung beleuchtet das Münchener Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) die Hintergründe der Taten seit 1958, analysiert die Akten, blickt in die Gemeinden und führt Interviews mit Betroffenen.
Das Ziel beschreibt Bischof Overbeck so: „Wir wollen verstehen und wir wollen verändern, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern.“ Die Redaktion fragte IPP-Geschäftsführerin und Psychologin Helga Dill nach den Erkenntnissen ihrer Untersuchung, die Anfang 2023 veröffentlicht werden soll.
In der Vergangenheit wurden bereits einige Missbrauchsgutachten vorgestellt. Welche Aufklärung kann Ihre Untersuchung noch leisten?
Helga Dill: Wir wissen inzwischen tatsächlich viel über das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und auch über die Verantwortlichkeiten und die systemischen Ursachen, die dazu geführt haben, dass viele Jahre der Schutz der Kirche und der Täter im Vordergrund stand. Was bisherige Studien aber nicht so genau in den Blick genommen haben sind die Auswirkungen von Missbrauch und Gewalt auf ganze Kirchengemeinden. Hier wollen wir genauer hinschauen.
Wie gehen Sie vor?
Wir haben ganz klassische mit dem Studium der Akten aller beschuldigten Kleriker begonnen. Anschließend haben wir sechs exemplarische Fälle ausgewählt. Zum Tatzeitpunkt waren die Opfer noch Kinder, in der Mehrzahl Jungen. In Interviews mit Betroffenen, Vertretern der Gemeinden, Zeitzeugen aus dem Bistum und in einigen Fällen auch mit Tätern rekonstruieren wir die Vorfälle. Auf der organisatorischen Ebene analysieren wir die Prozesse in den betroffenen Kirchengemeinden. Außerdem sehen wir uns an, wie seit den späten 50er-Jahren in der Kirche und der Priesterausbildung über Zölibat, Sexualmoral und Sexualität gesprochen wurde.
Wie konnte sexueller Missbrauch im Bistum Essen so lange geschehen?
Das ist die große Frage, die aber nicht allein das Bistum Essen betrifft. In den Jahren nach 1958, also der Gründung des Ruhrbistums, war es normal, sexualisierte Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und erwachsene Frauen zu übergehen. Es ging vorrangig um den Schutz der Institution, der Priester und der Kleriker. Die Täter wurden geschützt und meist nur versetzt. Betroffene, die es gewagt haben, über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen, wurden häufig in den Gemeinden ausgegrenzt.
Wann hat sich daran etwas geändert?
Das war 2010, als der Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich wurde. Die damalige Leitung hat das nicht unter den Tisch gekehrt, Betroffene konnten sich Gehör verschaffen. Das war eine Zäsur. Das System des Vertuschens wurde erschüttert. Im Anschluss mussten sich auch die Bistümer mit dem Thema befassen.
Was passierte in den Gemeinden, wenn ein Fall bekannt wurde?
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Es begann oft eine heftige Dynamik. In vielen Gemeinden wurden die Täter verteidigt: Das kann doch gar nicht sein, die Vorwürfe sind haltlos - und so fort. Die Betroffenen sahen sich gezwungen, sich zu verteidigen. Oft wurde ihnen nicht geglaubt. Das führte zu Spaltungen zwischen Anklägern und Verteidigern in den betroffenen Kirchengemeinden, die zum Teil bis heute nachwirken. Manche Menschen plagen noch heute Schuldgefühle, weil sie früher geschwiegen oder gar den Täter verteidigt haben und nun sehen, dass sie auf der falschen Seite standen.
Wie hat die Kirche reagiert, gibt es einen typischen Fall?
In Essen hat der Fall Peter H. große Erschütterungen ausgelöst, der schon als junger Kaplan in den 1970er-Jahren in Bottrop kleine Jungen missbraucht hat. Er wurde nach Essen versetzt und von dort 1980 weiter ins Erzbistum München. Über viele Jahre hinweg zeigt das, wie die Bistümer untereinander solche Fälle verhandelt haben und es manchmal einen regelrechten Ringtausch gab. Es zeigte auch, dass manche Täter trotz Therapieauflagen, die es nicht einmal in allen Fällen gab, weiter Kinder und Jugendliche sexuell ausbeuten konnten.
Welche systemischen Ursachen für den Missbrauch erkennen Sie?
Der zentrale Punkt ist, dass Kirche sich als ein völlig geschlossenes System präsentiert. Solche geschlossenen Institutionen können Gewalt und Missbrauch begünstigen. Dazu kommt, dass die klerikale Macht der Bischöfe und Priester bislang unanfechtbar war. Das ist eine gefährliche Mischung. Dagegen vorzugehen, wagen Gemeindemitglieder fast nie.
Welche Konsequenzen lassen sich aus den Erkenntnissen ziehen?
Wir können anhand der Fälle die sozialen Beziehungen, Strukturen und Prozesse beleuchten, um ein tieferes Verständnis für die Ursachen zu gewinnen, die zur Entstehung und Fortsetzung sexualisierter Gewalt im Bistum geführt haben. Dies kann die Basis für die künftige Präventionsarbeit sein. Das Bistum hat bereits eine Vielzahl von Schutzkonzepten entwickelt. Doch diese müssen auch in Zukunft mit Leben gefüllt werden.
Wie wichtig ist es für die Opfer und die Gemeinden, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden?
Das ist wichtig. Es ist für die Opfer manchmal eine späte Genugtuung und auch Bestätigung dafür, dass sie tatsächlich Unrecht erlebt und Gewalt erfahren haben. Manche haben als Kind ja nur geahnt, dass da etwas passiert, das nicht in Ordnung ist, konnten es aber nicht einordnen oder ansprechen. Grundsätzlich hat die Kirche in diesem Punkt bisher total versagt und trägt dafür die Verantwortung.
Gab es einen Fall, der Sie besonders beschäftigt hat?
Was mich immer sehr betroffen macht, sind die Gespräche mit den Opfern. Wenn sie davon erzählen, welche dramatischen Auswirkungen der Missbrauch auf ihr ganzes Leben hat, wie Träume und Lebenspläne zerplatzten, Menschen in Depressionen verfielen. Das bewegt mich sehr.
Ist die katholische Kirche reformfähig?
Ich bin grundsätzlich optimistisch. Aber die Kirche kann sich nicht mit einigen Bauernopfern begnügen. Ein paar Leute treten zurück und alles ist gut? Nein. Es geht darum, einen grundsätzlichen Systemwechsel einzuleiten. Ich setze meine Hoffnung stark auf die Gemeindemitglieder und die Betroffenen, die jetzt beginnen, sich zu vernetzen, um sich mehr Gehör zu verschaffen. Die Kirche muss sich von unten verändern.
>>>> Studie im Auftrag des Bistums
Das Bistum Essen beauftragte das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) vor gut zwei Jahren mit der Studie „Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute“. Das Institut habe bereits einschlägige Erfahrungen mit solchen Studien zu diesem Thema, sei unabhängig und renommiert. Unter anderem habe das IPP die Vorkommnisse an der Odenwaldschule untersucht sowie eine Aufarbeitungsstudie zum Internat des Klosters Ettal erstellt.
Eigentlich sollte die Studie bereits im März 2022 vorgestellt werden, das wurde zunächst wegen Corona auf den Herbst verschoben. Notwendige Interviews hätten wegen der Pandemie nicht stattfinden können.