Essen. Militärbischof Franz-Josef Overbeck unterstreicht das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung. Waffenlieferungen aus Deutschland seien legitim.

Der Krieg in der Ukraine fordert Franz-Josef Overbeck besonders heraus. Der Essener Ruhrbischof ist auch oberster katholischer Militärseelsorger der Bundeswehr. Im Gespräch mit der WAZ äußerte sich Overbeck zu den Sorgen deutscher Soldaten, zum Recht der Ukrainer auf Selbstverteidigung und zum Sinn des Betens und der Hoffnung in Zeiten des Krieges.

Was nehmen die Soldatinnen und Soldaten den Krieg in der Ukraine wahr?

Franz-Josef Overbeck: Er geht den Soldaten sehr nah. Der Konflikt hat eine andere Qualität als beispielsweise die Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan und Mali. Es herrscht Krieg in Europa. Und es geht um den grundlegenden Streit zweier politischer Systeme, den der westlichen Demokratien mit einem autoritär geführten Land. Diesen Ernst der Lage nehme die Soldatinnen und Soldaten sehr genau wahr. Denken Sie nur an die über 1000 Bundeswehrsoldaten, die in Litauen stationiert sind, direkt an der Grenze zu Belarus. Dort ist die Gefahr sehr real.

Verändert der Krieg das Bewusstsein der Bundeswehrsoldaten im Umgang mit Tod, Leid und Gewalt?

Wie in der Politik haben auch ganz viele Soldaten nicht damit gerechnet, dass die reale Kriegsgefahr so nah an uns heranrücken würde, wie es jetzt der Fall ist. Das erhöht noch einmal das Bewusstsein der Soldaten für die Gefahren, entweder Opfer der Tötungsabsicht anderer Soldaten zu werden oder selbst töten zu müssen.

Sie haben kürzlich gesagt, im russischen Angriffskrieg zeige sich die „Fratze des Bösen“. Was meinen Sie damit?

Das Böse an sich ist für uns als Christen nicht zuerst die Realität. Aber wir wissen, dass Menschen nicht immer das Gute wollen, sondern manchmal das genaue Gegenteil. Das braucht einen Namen. Gemeint damit ist die Aggression, der Angriff, die Verneinung des Lebens der anderen, auch die Absage an den Friedenswillen der Ukrainer. Stattdessen wird ein ganzes Volk mit Gewalt überzogen und ihm die Möglichkeit genommen, in Würde zu leben. Aus dem, was dieser Krieg will, kann niemals etwas Gutes erwachsen.

Ist es richtig, dass die Ukrainer ihr Land zäh verteidigen und dadurch selbst viele Opfer in Kauf nehmen, oder sollten sie lieber die Waffen strecken, in der Hoffnung, so weiteres Leid verhindern zu können?

Hätten Sie das getan, wäre dieses Land einfach überrollt worden und danach wäre der Furor der russischen Aggression ebenfalls über die Menschen gekommen. Anderes zu denken, wäre absolut naiv. Ja, das Christentum hat eine kritische Einstellung zur Gewalt. Jesus Christus ist selbst Opfer von Gewalt geworden, wir haben gerade Ostern gefeiert. Das kann für jeden einzelnen bedeuten, zu keiner Gelegenheit Gewalt einzusetzen. Aber aus einer verantwortungsethischen Perspektive, mit dem Blick auf die Millionen Menschen, für die ich Verantwortung trage, muss ich wissen, dass ich nicht einfach meine eigene Gesinnung auf ganz viele übertragen kann, mit all den Folgen, die dahinterstehen. Ein Volk, dass den Frieden will, hat das Recht, ihn auch zu verteidigen.

Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck in seinem Arbeitszimmer im Essener Bischofshaus. Der 57-Jährige ist seit 2011 auch katholischer Militärbischof der Bundeswehr.
Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck in seinem Arbeitszimmer im Essener Bischofshaus. Der 57-Jährige ist seit 2011 auch katholischer Militärbischof der Bundeswehr. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wie kann es sein, dass sich die christliche Orthodoxie in den Dienst des Despoten stellt?

Ich denke, dahinter steckt eine Art Überlebensstrategie, gespeist aus der historischen Erfahrung der Verfolgung der Kirche durch die Bolschewisten. Die russische Orthodoxie lässt sich machtpolitisch vereinnahmen, weil sie hofft, durch Assimilierung die besseren Überlebenschancen zu haben. Natürlich ist die Form der Verbindung von Thron und Altar, die Russlands Präsident Putin und der Patriarch von Moskau eingegangen sind, unsäglich und vollkommen unethisch. Es kann keinen Christen geben, der einen Gewaltkrieg ethisch gutheißt.

Ist es richtig, dass Deutschland die Ukraine mit Waffen unterstützt?

Die Ukraine nimmt ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch. Daher ist es sittlich legitim, dass Deutschland und die Nato auch mit Waffen helfen. Das halte ich für geboten. Die Ukraine sollte auch in die Europäische Union aufgenommen werden, weil sie gerade ihren Kopf für unsere Freiheit, unsere Demokratie und unsere Werte hinhält.

Sollte Deutschland auch schwere Waffen liefern, wie es derzeit immer wieder gefordert wird?

Es darf immer erst dann Gewalt eingesetzt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Die Gewalt, mit der Russlands derzeit die Ukraine verwüstet, ist durch nichts zu rechtfertigen. Sollte die Nato aber wirklich eingreifen, ergeben sich womöglich Folgen, die nicht mehr beherrschbar sind, etwa der Einsatz atomarer, chemischer oder biologischer Waffen. Man muss alles tun, um das zu verhindern. Wie dies geschieht, ist eine politische und militärische Entscheidung. Es verlangt jedenfalls eine äußerste Entschiedenheit seitens der Politik. Sowohl einzugreifen als auch nicht einzugreifen.

Was zählen angesichts des unermesslichen Leids christliche Werte, können sie Hoffnung geben?

Nach den Massakern in Butscha sah ich einen Beitrag, in dem ein Mann in der Ukraine auf einem Friedhof Leichen beerdigte. Er sagte, die Solidarität unter den Menschen endet nie, wir haben die Verantwortung dafür, den Krieg zu beenden. Er sagte auch, man darf nie aufhören zu beten, für den Frieden und für diese Menschen. Das hat mich sehr berührt. Hoffnung ist eine unserer menschlichen Tugenden, von gläubigen und von nicht gläubigen Menschen. Sie ist auf eine Zukunft gerichtet, die Sinn hat. Betenden Menschen bleibt die Hoffnung - und Hoffnung schützt vor Bitterkeit und Hass.

Haben wir uns zu sehr auf den Frieden nach dem Kalten Krieg verlassen, waren wir zu blauäugig?

Hoffnung ist nicht mit Naivität zu verwechseln. Sie setzt auf eine Zukunft, die vom Guten geprägt ist. Das versuche ich als Militärbischof den Soldatinnen und Soldaten stets zu vermitteln. Bei den Einsätzen geht es um den Frieden. Das ist die einzige Begründung, weshalb ich Militärbischof sein kann. Ich werde nie müde, die Soldaten aufzufordern, über die Mittel nachzudenken, die sie einsetzen. Denn Krieg verwandelt sich schnell in eine Maschinerie der Brutalität.

Wie würden Sie aus heutiger Sicht den Spruch „Frieden schaffen ohne Waffen“ interpretieren?

Es ist ein sinnvoller Satz. Er darf nur nicht naiv ausgelegt werden.

Wenn es ein Recht auf Selbstverteidigung gibt, kann es somit aus christlicher Sicht einen „gerechten Krieg“ geben?

Ein Krieg ist niemals gerecht. Frieden ist ein Werk der Gerechtigkeit. Daher muss alles getan werden, was dem Frieden dient. Von einem gerechten Krieg spreche ich niemals. Aber von einem gerechten Frieden.

Wie kann die Kirche in diesen Kriegszeiten Trost geben und helfen?

Jedes Wort, das den Menschen dient, dient dem Frieden. Solidarität mit den Menschen hat viel mit christlichen Werten zu tun, das umfasst auch die Hilfe für die Geflüchteten. Und wenn der Krieg hoffentlich bald beendet ist, können wir beitragen zu Versöhnung und Wiederaufbau.

Zur Person: Papst Benedikt XVI. ernannte Franz-Josef Overbeck 2011 zum Katholischen Militärbischof für die Bundeswehr. Der Bischof von Essen verantwortet damit die kirchliche Leitung der katholischen Militärseelsorge. Die katholische, evangelische und jüdische Militärseelsorge ist ein eigenständiger Organisationsbereich der Bundeswehr. Als Militärbischof steht Overbeck (57) aber in keinem Dienstverhältnis zum Staat.