Düsseldorf. Brigadegeneral Dieter Meyerhoff ist Kommandeur des Landeskommandos NRW. Ein Gespräch über NRW-Bundeswehrpräsenz und deutschen Abwehrwillen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine rückt die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und die Rolle der Bundeswehr in ein völlig neues Licht. Wie eigentlich sind die deutschen Streitkräfte im einwohnerstärksten Bundesland NRW aufgestellt? Was hat sich seit der „Zeitenwende“ für die Soldaten verändert? Ein Interview mit dem Kommandeur des Landeskommandos NRW, Brigadegeneral Dieter Meyerhoff.

Nach der Wiedervereinigung wurden Deutschlands Streitkräfte stark verkleinert. Wie präsent ist die Bundeswehr im größten Bundesland heute noch?

Dieter Meyerhoff: Bis zur Wiedervereinigung hatten wir bundesweit 495.000 Soldaten, heute sind es 180.000, davon 22.000 in NRW. Das führte automatisch dazu, dass viele große Bundeswehr-Standorte aufgelöst wurden. In NRW ist aber eigentlich alles da, was das Militär braucht: Höhere Stäbe, Führungskommandos, Einsatzverbände des Heeres und der Luftwaffe, Nato-Kräfte, Ämter, Ausbildungseinrichtungen und Truppenschulen.

Brigadegeneral Dieter Meyerhoff (Kommandeur des Landeskommandos NRW der Bundeswehr) Foto:Kdr LKdo NW
Brigadegeneral Dieter Meyerhoff (Kommandeur des Landeskommandos NRW der Bundeswehr) Foto:Kdr LKdo NW © Kdr LKdo NW | Kdr LKdo NW

Die Luftverteidigung ist ein Schwerpunkt?

Auch wenn die Luftwaffeneinsätze aus NRW heraus geführt werden und unsere Luftwaffe am multinational besetzten Awacs-Aufklärungsverband der Nato in Geilenkirchen beteiligt ist, kann man daraus noch keinen Schwerpunkt ableiten. Es gibt Munitionsdepots, Gerätedepots, die in der heutigen Zeit eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Auch der Stab des nationalen territorialen Befehlshabers, der Kommandostab der Streitkräfte Basis, der die gesamten Einsätze im Inland verantwortet, ist in NRW beheimatet. Hinzu kommt das Deutsch-Niederländische Korps in Münster, das sich auf die Führung der NATO Response Force vorbereitet oder die Panzerbrigade 21 in Augustdorf, die ein Truppenkontingent im Rahmen von Enhanced Forward Presence nach Litauen verlegen wird. Sie sehen: NRW in seiner Bedeutung für die Bundeswehr ist das geblieben, was es schon früher war - nur in etwas reduziertem Umfang.

Erklären Sie bitte, welche Aufgaben das Landeskommando hat?

Das Landeskommando ist erster Ansprechpartner für die Landesregierung. Wir beraten Düsseldorf in allen Fragen der zivilen und militärischen Zusammenarbeit und unterstützen per Amtshilfe in Krisenfällen. Wir sind flächendeckend in allen Kreisen und kreisfreien Städten, die wir mit Kreis- und Bezirksverbindungskommandos besetzt haben, um auch auf kommunaler Ebene Bundeswehrberater für den Fall der Fälle zur Verfügung zu stellen. Das ist der Kernauftrag des Landeskommandos. Außerdem sind wir verantwortlich für die Wahrnehmung aller nationalen territorialen Aufgaben und haben über die jeweiligen Standortältesten unmittelbaren Zugriff auf alle 25 Bundeswehrstandorte in NRW.

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Wie gehen Ihre Soldaten und Sie persönlich mit den Bildern und Nachrichten aus der Ukraine um?

Alle bei uns sind erschüttert über das, was seit dem 24. Februar passiert ist. Auch wenn es durchaus Signale gegeben hat, so kam der russische Angriff auch für mich völlig überraschend. Dass die Russische Föderation plötzlich bereit ist, alles auf eine Karte zu setzen, hätte ich persönlich nicht für möglich gehalten. Es ist sehr ernüchternd zu sehen, wie alle bisher erfolgreich angewandten Mechanismen der Diplomatie von einem Tag auf den anderen nicht mehr gelten.

Die Politik spricht inzwischen von einer Zeitenwende, die Bundeswehr erhält zusätzlich viele Milliarden. Was sagen Sie dazu?

Für mich ist schon länger klar, dass wir nicht einseitig blauäugig und naiv an die sicherheitspolitische Lage herangehen dürfen. Es stellt sich die Frage: Will Deutschland Spieler oder Spielball sein? Das von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr ist für mich insofern tatsächlich eine Zeitenwende, denn damit endet das Prinzip, Sicherheit nach Kassenlage zu definieren. Es gibt jetzt endlich die Möglichkeit, die Bundeswehr auszurüsten. Ich betone dieses Wort, denn es geht nicht um Aufrüstung.

Derzeit ist die Bundeswehr an einer UN-Mission und einer EU-Ausbildungsmission in Mali beteiligt.
Derzeit ist die Bundeswehr an einer UN-Mission und einer EU-Ausbildungsmission in Mali beteiligt. © dpa | Kay Nietfeld

Was genau meinen Sie?

Die Bundeswehr hatte immer gutes Material für die Auslandseinsätze. In Afghanistan oder in Mali fehlte es an nichts. Aber unser Auftrag ist nun mal die Landes- und Bündnisverteidigung. Und dafür braucht man voll ausgerüstete Kräfte. Durch das 100-Milliarden-Paket besteht die Möglichkeit einer solchen Vollausstattung. Die Zeiten, in denen die Bundeswehr nur einen Teil ihrer Aufgaben erfüllt, aber das gesamte Aufgabenprofil nicht abdecken kann, werden damit vorbei sein.

Ist die Ausrüstung der Streitkräfte tatsächlich so desolat, wie oft zu hören?

Die Lage ist nicht desolat. Die Ausrüstung der Truppe reicht für die Kernaufträge der Vergangenheit, also die Auslandseinsätze. Sie reicht nicht für den Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung. Dafür ist die Bundeswehr als Ganzes gefordert - mit allen 180.000 Soldatinnen und Soldaten und nicht nur 5000 wie beispielsweise in Afghanistan.

Es geht also nicht darum, die Bundeswehr auf – sagen wir - 250.000 Soldaten aufzustocken?

Genau. Es geht darum, dass die vorhandene Truppe bestens ausgerüstet ist, mit allem was dazu gehört: Großgeräte, Munition, Ersatzteile, etc. Das System muss unter Volllast laufen können. Das ist die Herausforderung, vor der die Bundeswehr steht.

Wie werden die NRW-Standorte von den zusätzlichen Milliarden profitieren?

Wo genau die neuen Mittel hinfließen, kann ich nicht sagen. Man hört ja, dass der alte Tornado durch die F35-Kampfjets ersetzt werden soll. Auch die Heron-Drohnen sollen bewaffnet werden. Sicher wird auch in die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten investiert: Bekleidung, Schutzwesten, Rucksäcke, neue Helme und Funkgeräte - es sind viele Sachen dabei, die die Truppe dringend braucht.

Nicht jeder in Deutschland ist begeistert, dass die Bundeswehr jetzt so viel Geld erhält. Können Sie das verstehen?

Natürlich gibt es Menschen, die das Geld lieber an anderer Stelle investiert sähen. Reformbedarf gibt es ja genug in unserer Gesellschaft, beispielsweise bei den Schulen. Aber ich sehe auch die Notwendigkeit, dass wir unser Staatssystem nur dann so erhalten können, wie es ist, wenn wir nicht erpressbar durch äußeren Druck sind. Sicherheit ist zum Nulltarif nicht zu haben und wer in Frieden und Freiheit leben will, der muss Vorsorge treffen.

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Wenn ein Arbeitgeber derart viel Geld in sein Unternehmen steckt, hebt das gewöhnlich die Stimmung der Belegschaft. Wie ist das bei der Bundeswehr?

Es ist insgesamt eine Aufbruchstimmung erkennbar. Die damit beschäftigten Soldaten gehen mit großer Ernsthaftigkeit an dieses Thema, weil alle genau wissen: Jetzt besteht die Chance, einen deutlichen Schub nach vorne zu schaffen. Auf der anderen Seite macht sich jeder hier Gedanken über die Frage, welche Auswirkungen der Krieg hat. Denn diese Bilder aus der Ukraine lassen uns natürlich nicht kalt.

Verändert der Krieg in der Ukraine die Gefahreneinschätzung der Soldaten?

Ich war dreimal in Auslandseinsätzen. Ich weiß, was Krieg bedeutet und welches Leid für die Menschen damit verbunden ist. Für jeden Soldaten gehört es dazu, sich mit dem Thema Tod und Verwundung auseinanderzusetzen. Ich würde die Frage aber gerne weiterfassen. Wir bewundern die Ukrainer, wie sie Widerstand leisten. Das wirft die Frage auf: Wie abwehrbereit sind wir eigentlich selbst? Könnten die Bundesbürger ähnliches vollbringen wie die Ukrainer?

Was glauben Sie, sind die Deutschen dazu bereit?

Ich mache da das ein oder andere Fragezeichen dran. Die Abkehr von der Wehrpflicht hat dazu geführt, dass Gedanken über die Notwendigkeit, für die Sicherheit Deutschland etwas tun zu müssen, vollkommen in den Hintergrund gerückt sind. Ich plädiere hier keineswegs für die Wiedereinführung der Wehrpflicht, verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt mittlerweile gute Alternativen wie das neue Heimatschutz-Programm „Dein Jahr für Deutschland“. Das ist eine tolle Initiative und ich ziehe den Hut davor, wie hier junge Leute die bewusste Lebensentscheidung treffen und aktiv in den Heimatschutz einsteigen.

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Von der Wiedereinführung der Wehrpflicht raten Sie ab?

Pro Jahr würden derzeit ungefähr 700.000 junge Menschen wehrpflichtig werden. Damit kann man den Gedanken der Wehrgerechtigkeit vergessen. Es sind einfach zu viele in einem Jahrgang, die sich in der kleiner gewordenen Bundeswehr nicht mehr ausbilden ließen. Man müsste von vorneherein eine Auswahl treffen. Wie soll das gehen? Die Wehrpflicht bringt nur etwas, wenn man die Wehrgerechtigkeit durchsetzen kann.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Alternative?

Ich denke an ein Dienstjahr für alle. Ob Naturschutz, Unterstützung in Pflegeheimen, Hilfs- und Rettungsdienste – es gibt so viele Bereiche, in denen sich junge Leute für eine gewisse Phase ihres Lebens für diesen Staat engagieren könnten. Nehmen Sie nur die Corona-Hilfe in Deutschland: Die Bundeswehr hat 19 Millionen Arbeitsstunden in die Unterstützung etwa der Gesundheitsämter investiert und war in Spitzenzeiten mit bis zu 20.000 Soldaten im Einsatz. Das bedeutet aber auch einen Verlust an Einsatzfähigkeit. Soldaten, die acht Monate Amtshilfe leisten, sind zunächst nicht mehr feldverwendungsfähig. Eine zivile Personalreserve auf die einzelnen Kommunen in besonderen Lagen im Inland zurückgreifen könnten, wäre eine sinnvolle Alternative.

Zur Person: Brigadegeneral Dieter Meyerhoff (62) ist seit Mitte 2021 Kommandeur des Landeskommandos Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Düsseldorf. In seiner langen Laufbahn als Bundeswehroffizier absolvierte der gebürtige Soltauer Auslandseinsätze der Bundeswehr in Mazedonien, Afghanistan und im Kosovo und arbeitete im Verteidigungsministerium.