Witten. Hacker legten im Oktober das Wittener Rathaus lahm. Der Bürgermeister rät nun allen Städten, deutlich mehr für die IT-Sicherheit zu tun.

Wer Lars König in seinem Dienstzimmer besucht, erlebt den Wittener Bürgermeister als Herrn über gleich zwei Großbaustellen. Seit gut vier Jahren wird das Rathaus kernsaniert. Die Arbeiten sind weit fortgeschritten und lassen den historischen Glanz des Gebäudes aus den 1920-er Jahren schon jetzt erahnen. Überwiegend unsichtbar, aber auch deutlich weniger glanzvoll bleibt die digitale Baustelle, mit der sich König herumschlagen muss. Ein Hackerangriff legte vor vier Monaten sämtliche städtischen Computer lahm. Wir sprachen mit dem CDU-Politiker über Hintergründe und Folgen der bislang heftigsten Cyberattacke auf eine öffentliche Infrastruktur in NRW.

Der Hackerangriff liegt Monate zurück. Wie ist der Stand der Dinge?

Der Angriff fand in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober statt. Wir waren damals so optimistisch anzunehmen, dass wir nach vier Wochen aus dem Gröbsten heraus sein würden. Jetzt sind vier Monate um und wir haben immer noch zu kämpfen.

Woran liegt das?

Das hat viele Ursachen. Zum einen haben wir die Situation natürlich genutzt, um die Sicherheitsarchitektur unserer IT grundlegend neu aufzustellen. Einzelne Anwendungssoftwares war noch nicht auf dem neuesten Stand, was auch der bescheidenen Haushaltssituation der Stadt geschuldet war. Der Neuaufbau macht unzählige Schulungen nötig. Auch Corona hat die Lage natürlich verschärft. Zwischenzeitlich waren fast 1000 Mitarbeiter im Homeoffice. Diese Mitarbeiter sicher homeoffice-fähig zu machen, kostet Zeit. Die größte Herausforderung war jedoch, die rund 180 verschiedenen Betriebsprogramme der Stadtverwaltung wieder unter einen Hut zu bekommen.

Wie schwer war der Angriff?

Betroffen waren nahezu alle Server und die dahinter geschalteten Backup-Geräte. Wir hatten keinerlei Zugriff mehr. Glücklicherweise hat die Stadt die wichtigsten Daten zusätzlich auf Magnetbändern gespeichert, die unversehrt blieben. Allerdings verschlingt das Überspielen der Daten von den langsamen Magnetbändern unendlich viel Zeit. Manche Daten wie die des Geo-Informationssystems sind komplett weg – und damit auch die Arbeit von Jahren.

Was bedeutet das?

Der Totalverlust führte dazu, dass wir drei Monate lang keine einzige Baugenehmigung erteilen konnten. Und weil es im Bauordnungsamt schon vorher aus Personalmangel einen Bearbeitungsstau gab, schieben wir nun eine riesige Welle an Genehmigungsverfahren vor uns her. Das wird uns noch Monate beschäftigen.

Welche Probleme gibt es außerdem?

Das System zur zentralen Vergabe von Kita-Plätzen läuft immer noch nicht rund. Wir haben kein sauberes Lagebild über freie Plätze in den insgesamt 57 Kitas in der Stadt, was für betroffene Familien ärgerlich ist. Auch wer einen neuen Pass oder Personalausweis braucht, muss sich gedulden. Termine gibt es erst mit zwei Monaten Zeitverzug. Nervig ist zudem, dass die Telefonanlage der Stadt noch immer nicht stabil arbeitet.

Wann werden alle Mängel beseitigt sein?

Wir rechnen damit, dass die Verwaltung um Ostern herum voll arbeitsfähig sein wird. Der hohe Bearbeitungsstau in Bauamt und Bürgerbüro wird uns aber noch das ganze Jahr 2022 beschäftigen.

Was wissen Sie über die Hacker?

Wir haben einen Namen und eine Himmelsrichtung. Die Gruppierung, die uns gehackt hat, nennt sich „Vice Society“. Der Angriff erfolgte aus dem Osten – aus einem Land, das von uns aus gesehen noch vor China liegt. Wir wissen auch, dass dieselbe Gruppe etwa zeitgleich mit uns mindestens 23 Ziele weltweit attackiert hat, drei weitere davon in Deutschland.

Gab es Lösegeldforderungen?

So weit ist es nicht gekommen. Die Täter haben uns anonyme E-Mailadressen und eine englischsprachige Nachricht hinterlassen. Wir sollten innerhalb von sieben Tagen eine beliebige Datei zur beispielhaften Entschlüsselung schicken. Darauf haben wir nicht reagiert. Wir lassen uns nicht erpressen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die öffentliche Hand in Deutschland sich von Hackern erpressen lässt, um dann im Darknet noch als williges Opfer angepriesen zu werden.

Können Sie sich einen Reim darauf machen, warum ausgerechnet Witten angegriffen wurde?

Schwer zu sagen, warum eine Stadt erpresst werden sollte, bei der es finanziell bekanntermaßen nicht viel zu holen gibt und die hochverschuldet ist. Ich glaube daher, dass Witten ein zufälliges Ziel war. Aber ich würde auch nicht ausschließen, dass dies eine Fingerübung war und es womöglich gar nicht ums Geld ging.

Was meinen Sie genau?

Angriffe auf die kommunale Infrastruktur gab es nach meiner Kenntnis in jüngster Vergangenheit auch im Landkreis Bitterfeld-Wolfen, in Schwerin und Karlsruhe. Cyber-Attacken sind ja längst zu einer Form moderner Kriegsführung geworden, wie man ja auch in der Ukraine beobachten konnte, wo es Hacker-Angriffe auf Ministerien und Banken gab.

Welche Schlüsse ziehen Sie?

Ich kann nur allen Kommunen in Deutschland raten, auf ihre IT-Sicherheit höchsten Wert zu legen und dafür Geld in die Hand zu nehmen. Auch wenn Witten mit seinen 98.000 Einwohnern keine sehr große Stadt ist, sind wir im Bereich der Digitalisierung doch deutlich weiter als andere und arbeiten sogar als Dienstleister für Kommunen. Trotzdem hat es uns hart getroffen. Nicht auszudenken, wenn eine Stadt attackiert worden wäre, die im IT-Bereich weniger gut aufgestellt ist. Es muss dringend etwas passieren und ich freue mich, dass es von Seiten der Landesregierung jetzt ernsthafte Bemühungen gibt, eine Taskforce für kommunale Cyberangriffe zu bilden.

Nach Ihren Erfahrungen der vergangenen Monate: Wie gefährlich sind Cyber-Angriffe auf staatliche Infrastrukturen für unser Land?

Cyber-Angriffe haben erkennbar das Potenzial, unsere Infrastruktur nachhaltig zu stören und sogar zu zerstören. Witten hatte noch das Glück, dass weder Energieversorgung noch Finanztransfers betroffen waren. Wenn jedoch Strom und Wasser nicht mehr fließen, die Telefonnetze zusammenbrechen und Gehälter und Sozialleistungen nicht mehr ausgezahlt werden können, kann das die Bevölkerung innerhalb weniger Tage komplett zermürben. Damit lässt sich unsere demokratische Grundordnung viel effizienter angreifen als mit Panzern und Kanonen.

Info:

Auch vom Ukraine-Krieg ist Witten zumindest mittelbar betroffen. Die geplante Städtepartnerstadt mit dem ukrainischen Tschornomorsk liegt vorerst auf Eis. Mitte April sollte es einen ersten Besuch der Wittener Delegation in der Schwarzmeerstadt nahe Odessa geben. Im September war der Gegenbesuch der Ukrainer verabredet. „Derzeit konzentrieren wir uns darauf, ukrainische Flüchtlinge, die in unserer polnischen Partnerstadt Tczew gestrandet sind, in Witten unterzubringen“, so Bürgermeister Lars König.