Bochum. Isolde Karle ist die erste Prorektorin der Ruhr-Uni Bochum für Inklusion und Talentförderung. Ihr Leitbild ist Desmond Tutus „Regenbogennation“.
Sie hat die Vielfalt ständig vor Augen: Zahllose bunte Zettel hat sie an die Pinnwand in ihrem Büro im nüchternen Verwaltungsbau der Ruhr-Uni Bochum geheftet. Darauf schrieb sie Begriffe wie Diversität, religiöse Vielfalt, Talententwicklung, LGBTIQ, People of Color, Barrierefreiheit – und ganz groß: Vision. Spätestens jetzt ahnt der Besucher, welcher Aufgabe sich Isolde Karle verschrieben hat.
Die Theologin ist die erste Prorektorin der Ruhr-Uni Bochum für Diversität, Inklusion und Talententwicklung. In der Uni-Leitung ist sie damit eine Art „Ministerin“ für Chancengerechtigkeit. „Das ist mir eine Herzensangelegenheit – ich beginne meine Aufgabe mit Feuer und Flamme“, sagt die 58-Jährige.
Ihr selbst wurde eine akademische Karriere nicht in die Wiege gelegt. „Ich bin auf einem Bauernhof im ländlichen Baden-Württemberg aufgewachsen. Mit drei Brüdern – das machte mich zwangsläufig zur Feministin. Das war meine einzige Chance“, lacht sie. „Ich hatte Glück, denn meine Eltern haben uns unglaublich gefördert“, dennoch sei sie nie auf die Idee gekommen, eine akademische Karriere einzuschlagen.
Sie sagte: Du musst Professorin werden
Das änderte sich durch eine zufällige Begegnung während eines USA-Aufenthaltes. „Da sagte mir eine afroamerikanische Professorin: Du hast Talent, du musst unbedingt Professorin werden! Das hat mich irritiert, ich fand das damals völlig verrückt“, sagt Karle heute. Doch der Gedanke nistete sich ein. Sie machte ein sehr gutes Examen, bekam Promotionsangebote – und ging ihren Weg.
Heute weiß sie: Es braucht Förderung, Ermutigung, einen Anstoß und Vorbilder, damit junge Menschen den Mut finden, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Ihnen möchte sie eine Schneise schlagen auf dem gewundenen und oftmals steinigen Weg zur akademischen Bildung und zur Wissenschaft. Denn Herkunft, sie sagt „Sozialisation“, sei gerade in Deutschland immer noch der bestimmende Faktor, wenn es um den Bildungserfolg geht. Die Statistik gibt ihr recht: Nur 27 Prozent der Grundschulkinder aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt beginnen später ein Studium, ergab jüngst eine Studie des Stifterverbands. Hingegen sind es bei Akademikerkindern 79 Prozent.
Eine Frage der Gerechtigkeit
Das zu ändern, ist für Isolde Karle eine Frage der Gerechtigkeit: Menschen zu fördern, denen nicht aus Gründen des Talents, sondern wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder Kultur der Weg zu einer wissenschaftlichen Karriere bislang verbaut wurde. „Nicht die Herkunft ist entscheidend, sondern Talent und Leistung“, stellt sie klar. Davon profitiere nicht nur jeder für sein eigenes Leben und Fortkommen, sondern Wissenschaft und Gesellschaft insgesamt.
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Für Fortschritt und Wohlstand „ist es elementar, alle menschlichen Begabungsressourcen zu erschließen und zu nutzen und deshalb Frauen, Trans- und Interpersonen, Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien, Menschen mit Migrationshintergrund, Personen, die diskriminiert werden aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen ihrer Behinderung eine volle Teilhabe an der wissenschaftlichen Wahrheitssuche zu ermöglichen“, zählt sie auf. „Wir hätten viele Probleme schon gelöst, wenn wir damit früher angefangen hätten“, ist sie überzeugt. Das beste Beispiel dafür seien die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci, die in Windeseile einen Corona-Impfstoff entwickelt haben, von dem heute alle profitieren. „Das zeigt, wie wichtig es ist, Talente zu erschließen.“
50 Prozent sind „Bildungsaufsteiger“
Die Ruhr-Uni sei dabei mit einem Anteil von rund 50 Prozent der Studierenden, die in ihrer Familie die ersten sind, die ein Studium absolvieren (First-Generation-Students), sehr erfolgreich. „Das ist unser Auftrag seit Gründung der Uni“, sagt sie nicht ohne Stolz. Mit Beratungen, Schüleruni, Talentscouts und Schulbesuchen werbe die Uni weiterhin um junge Talente. Karle will die vielen einzelnen Projekte zu einer Gesamtstrategie zusammenfügen und bekannter machen.
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Dass die Corona-Pandemie einen schweren Rückschlag für die Bemühungen um Chancengerechtigkeit bedeuten kann, ist ihr schmerzlich bewusst. Gerade junge Menschen aus prekären Verhältnissen leiden darunter, dass der Unibetrieb stockt. Soziale Kontakte, Freundschaften, das Uni-Leben, Nebenjobs, Partys – vieles brach mit der Pandemie auf einen Schlag weg. „Das besorgt mich sehr. Viele Studierende haben aus finanziellen Gründen ihre Wohnung gekündigt und sind wieder zurück in ihr Kinderzimmer gezogen. Das ist für viele frustrierend und oftmals kein lernförderndes Umfeld. Wir stellen bei einigen einen radikalen Leistungsabfall fest.“
Das Leitbild der „Regenbogennation“
Als Leitmotiv ihrer Arbeit dient ihr der Begriff der „Regenbogennation“, den der kürzliche verstorbene südafrikanische Bischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu geprägt hat. Es sei kein Zufall, sagt sie, dass ausgerechnet die junge Uni mitten im Ruhrgebiet als einzige Universität in Deutschland dem charismatischen Geistlichen bereits 1981 die Ehrendoktorwürde verliehen hat. „Tutu hat mich fasziniert. Er steht für Vielfalt, für den Kampf gegen Rassismus und Homophobie – und er war extrem mutig.“ Sinngemäß und mit seinem speziellen Humor habe Tutu gesagt: Wenn Gott homophob wäre, dann möchte er lieber nicht ins Paradies kommen - sondern die Hölle bevorzugen.
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Isolde Karle lacht und lehnt sich zurück. Sie fühlt sich erkennbar wohl in ihrer neuen Rolle als Prorektorin: „Wir waren mit unseren Ansichten lange im Kampfmodus“, blickt sie zurück. „Doch jetzt sind wir oben angekommen, können gestalten. Gleichberechtigung auf allen Ebenen ist kein Gedöns mehr, sondern elementar für eine erfolgreiche Universität.“
>>>> Zur Person:
Isolde Karle gilt als streitbare Theologin. Im Sommer 2020 hat sie eine Resolution des Uni-Senats gestartet, in der sich die Ruhr-Uni verpflichtet, Prüfungstermine so festzulegen, dass sie nicht mit religiösem Arbeitsverboten oder hohen Feiertagen kollidieren. Diese Initiative fand wurde bundesweite Beachtung.
Auch ein Beitrag in der FAZ Anfang 2021 zum selbstbestimmten Sterben unter der Überschrift „Evangelische Theologen für assistierten professionellen Suizid“ löste eine breite Debatte aus.
Isolde Karle studierte evangelische Theologie in Tübingen, Cambridge (USA) und Münster. Seit November 2001 ist sie Professorin für Praktische Theologie an der RUB, seit 2003 ist sie Universitätspredigerin.
2014 erhielt sie einen Ruf an die Humboldt-Universität in Berlin, den sie 2015 ablehnte. Seit 2015 ist sie Direktorin des neu gegründeten Instituts für Religion und Gesellschaft. Ende 2021 wurde sie als Prorektorin in das neue Leitungsgremium von Rektor Martin Paul gewählt.