Düsseldorf. Dr. Axel Gerschlauer, Sprecher der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein, spricht im Interview über Nutzen und Risiken der Kinderimpfung.
Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) macht den Weg für Kinderimpfungen frei. Der Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein, Dr. Axel Gerschlauer, rät aber im Gespräch mit Matthias Korfmann davon ab, gesunde Grundschüler zu impfen.
Herr Dr. Gerschlauer, die EMA hat die Impfung von Fünf- bis Elfjährigen mit dem Impfstoff von Biontech zugelassen. Ein Grund zur Freude für den Kinder- und Jugendarzt?
Gerschlauer: Auf den ersten Blick ist es genau das, was wir erwartet und erhofft haben. Wir freuen uns sehr, dass wir durch die EMA-Zulassung die Möglichkeit haben, schwer chronisch kranke Patientinnen und Patienten rechtssicher zu impfen. Das organisatorische Problem ist aber, dass sich die Zulassung nicht auf den aktuell verfügbaren Biontech-Impfstoff bezieht. Ich darf jetzt nicht, wie ich eigentlich dachte, aus einem Fläschchen zehn Mikrogramm abziehen und mit der kleineren Dosis Kinder impfen. Die Zulassung bezieht sich explizit auf den Kinderimpfstoff von Biontech, und der wird erst kurz vor Weihnachten ausgeliefert. Die Zulassung nützt uns also im Moment noch nichts.
Was können Familien nun tun?
Gerschlauer: Sie können noch drei Wochen auf den Kinder-Impfstoff warten oder einen Kinder- und Jugendarzt suchen, der trotzdem die Dosis aus einem "Erwachsenen"-Fläschchen herauszieht. Das wäre aber ein sogenannter "off-label" Gebrauch und damit durch die Zulassung nicht gedeckt.
Wie groß ist die Bereitschaft unter Ihren Kollegen, so zu tricksen?
Gerschlauer: Die meisten dürften zulassungstreu handeln, jetzt erstmal die Terminlisten füllen und dann Ende Dezember/Anfang Januar loslegen. Der Vorteil: Bis dahin wird wahrscheinlich auch eine Stiko-Empfehlung zur Kinderimpfung vorliegen.
Was können wir von der Stiko erwarten?
Gerschlauer: Sie wird festlegen, bei welchen chronisch kranken Kindern die Impfung Sinn macht.
Was raten Sie Eltern, die sagen, mein Kind ist nicht chronisch krank und soll dennoch geimpft werden?
Gerschlauer: Nach jetzigem Wissensstand kann man dazu nicht raten. Covid-19 verläuft in dieser Altersgruppe fast immer symptomlos oder milde. Es geht hier um die Nutzen-und-Risiko-Abwägung. Die lautet bei gesunden Kindern aktuell: eher nicht impfen. Das wird die Ständige Impfkommission (Stiko) jetzt gründlich prüfen. Wir gehen zurzeit davon aus, dass sie keine generelle Impfempfehlung für diese Kinder aussprechen wird.
- Anmerkung der Redaktion: Es gibt auch Kinder- und Jugendärzte, die bei dieser Abwägung zu anderen Ergebnissen kommen. Hier einige Beispiele.
Daten aus den USA lassen den Rückschluss zu, dass die Kinderimpfung zu empfehlen ist
Gerschlauer: Die Amerika-Daten nutzen für unsere Einschätzung nicht viel, weil US-amerikanische Kinder nicht mit deutschen Kindern vergleichbar sind. Das Risiko US-amerikanischer Kinder für einen schweren Covid-19-Verlauf ist viel größer als das Risiko deutscher Kinder. Adipositas, also starkes Übergewicht, ist unter Kindern in den USA viel stärker verbreitet, und Adipositas erhöht neben zum Beispiel schweren Herz-Lungen-Erkrankungen und Trisomie 21 das Corona-Risiko deutlich. Dazu kommt das viel schlechtere US-Gesundheitssystem. Weil der Arztbesuch dort teuer ist, gehen viele erst zum Arzt, wenn es gar nicht mehr geht. Unsere Kinder sind gesünder, unser Gesundheitssystem ist besser.
Aber die Gesellschaft hätte einen Nutzen von der Kinder-Impfung
Gerschlauer: Bei dem Argument wird mir schlecht. Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, die vierte Welle zu brechen. Sie haben in der Pandemie am meisten zurückgesteckt. Sie sind die Opfer der Pandemie, nicht die Treiber. Für das Brechen der vierten und jeder weiteren Welle sind 15 Millionen ungeimpfte Erwachsene zuständig. Die müssen dafür sorgen, dass vor allem die Kinder und Jugendlichen wieder ein normales Leben führen können.
Wie ist die Nachfrage nach Impfung unter den Zwölf- bis 17-Jährigen?
Gerschlauer: Die allermeisten, die die Impfung wollen, sind inzwischen geimpft. Die Kinder- und Jugendmediziner haben in den letzten Wochen und Monaten eine unglaublich große Menge an Impfdosen in ihren Praxen verabreicht, meistens auch noch außerhalb der eigentlichen Sprechstunden und an den Wochenenden.
Ist es gut, dass inzwischen etwa jeder zweite Jugendliche geimpft ist?
Gerschlauer: Es ist okay. Ich freue mich, ihnen das Impfangebot machen zu können. Zur Pandemiebekämpfung ist das allerdings eher zweitrangig. Auch ohne Impfung müssen wir in der Lage sein, Präsenzunterricht zu organisieren. Die Impfung macht es zwar leichter, aber der Impfstatus darf nicht verknüpft werden mit dem Thema Schulschließungen. Weitere Schulschließungen verkraftet die Psyche unserer Kinder und Jugendlichen nicht.
Es könnte sein, dass in NRW bald wieder die Maskenpflicht im Unterricht eingeführt wird. Was halten Sie davon?
Gerschlauer: Wir haben uns gefreut, als die Maskenpflicht fiel. Ich finde eine Maskenpflicht im Unterricht aber in Ordnung, wenn sie im Rahmen eines Gesamtkonzeptes steht. Solange Bars öffnen und Konzerte veranstaltet werden, ist eine Maskenpflicht im Unterricht nicht okay. Wenn aber die ganze Gesellschaft aufgrund stark ansteigender Inzidenzen und der wohl stärkeren Gefährdung durch die Omikron-Variante zurückstecken muss, muss man natürlich auch darüber nachdenken.