Essen. Hochschulen wollen ab Oktober unbedingt ihre Hörsäle wieder öffnen. Studenten berichten, wie sie die drei Digital-Semester erlebt haben.

Ein viertes Online-Semester soll es nach dem Willen der Hochschulen in NRW auf keinen Fall geben. „Auch wenn große Vorlesungen mit Hunderten Teilnehmern nicht möglich sein werden, planen wir eine Rückkehr zur Präsenzlehre zum Wintersemester“, sagt Prof. Jörg Bogumil, Vorsitzender des Senats der Ruhr-Uni Bochum, dieser Redaktion. Sämtliche Beschäftigten der Hochschule seien bis zum Semesterstart im Oktober geimpft, die Studierenden könnten spezielle Angebote in den Impfzentren wahrnehmen, so Bogumil.

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Ähnlich planen alle Hochschulen in NRW. Die Präsenzlehre müsse wieder Vorrang vor der Online-Lehre haben, „das ist mit Blick auf unsere Studierenden eine zentrale Maßgabe“, teilt die Landesrektorenkonferenz (LRK) mit. Voraussetzung dafür sei ein Impfquote von 80 Prozent unter Beschäftigten und Studierenden. Nur dann könnten die Abstandsregeln entfallen.

Hochschulverband fordert Lüftungsgeräte und kostenlose Tests

Parallel dazu sollte das Land Lüftungsgeräte in Hörsälen und Seminarräumen sowie kostenlose Testmöglichkeiten in den Hochschulen finanziell ermöglichen, fordert der Deutsche Hochschulverband NRW (DHV). Es müsse juristisch klar geregelt werden, dass nur Studierende in der Präsenzlehre zugelassen sind, die vollständig geimpft, genesen oder getestet sind, so die Interessenvertretung der Hochschulprofessoren. Flächendeckende Zugangskontrollen seien hingegen kaum umsetzbar.

Auch die Studierenden wollen ein Ende des Online-Studiums. „Wir rufen unsere Kommilitoninnen und Kommilitonen dazu auf, die Angebote der Hochschulen und Impfzentren anzunehmen“, fordert Carlotta Kühnemann vom bundesweiten studentischen Dachverband FZS. Zugleich müssten die Hochschulen bei steigenden Inzidenzzahlen Notfallpläne vorbereiten, um ein komplettes Herunterfahren des Hochschulbetriebs zu vermeiden. Inzwischen hat die NRW-Landesregierung zugesagt, allen Studierenden sowie Hochschulmitarbeitenden ein spezielles Impfangebot zu machen.

Keine schlagkräftige Interessenvertretung

Warum an den Hochschulen im Gegensatz zu Schulen und Kitas trotz drei Semestern unter Corona-Bedingungen kaum Unmut laut wurde und Proteste ausblieben, hat nach Ansicht von Prof. Bogumil mehrere Gründe. „Es ist allen klar, dass man eine Uni mit rund 40.000 Studierenden nicht so einfach öffnen und kontrollieren kann wie eine Schule oder Kita. Daher kamen Debatten über eine Öffnung zunächst gar nicht auf.“

Zudem seien die Hochschulen digital wesentlich besser aufgestellt gewesen als die meisten Schulen. „Wir verfügten bereits über Online-Plattformen, die wir zügig erweitern konnten“, so Bogumil. „Natürlich waren die Studentinnen und Studenten nicht glücklich mit der Situation. Aber es ist nicht alles zusammengebrochen.“ Überdies stünden hinter den Studierende keine ähnlich schlagkräftigen Interessenvertretungen wie Eltern- oder Lehrerverbände.

Studentin: „Ich war plötzlich auf mich allein gestellt“

Online-Seminare, Video-Vorlesungen und Homeoffice statt Hörsaal, Bibliothek und Campusleben – wie haben die Studierenden die Zeit der Uni-Schließungen erlebt?

Für Lisa Nüsse ist das erste Semester ihres Lehramt-Studiums an der TU-Dortmund zunächst ganz normal gestartet. Einführungswoche, Erstsemesterfahrt und neue Kontakte knüpfen. „Das war alles sehr aufregend“, erinnert sich die 21-Jährige. Heute ist von der anfänglichen Euphorie nichts mehr übrig.

Denn schon ein Semester später sitzt die Studentin mit Beginn der Pandemie jeden Tag allein in ihrem Zimmer und starrt auf die vielen kleinen Kacheln vor sich auf dem Computer-Bildschirm. „Das war eine große Umstellung, ich war plötzlich auf mich allein gestellt.“

Wechsel zwischen Uni und Freizeit fehlt im Homeoffice

Bekanntschaften, die sie im ersten Semester gemacht hat? Verflogen. „Die Freundschaften konnten sich nicht verfestigen“, so Nüsse. Zwar gebe es eine Whatsapp-Gruppe, aber dort sei die Kommunikation eine andere, mit Gesprächen auf dem Flur nicht vergleichbar. „Teilweise kenne ich die Namen gar nicht mehr“, stellt die Studentin fest.

Anja Laroche vom Akademischen BeratungsZentrum (ABZ) der Uni Duisburg-Essen sagt, dass den Studentinnen und Studenten im digitalen Semester die Struktur fehle. Zudem sei ein Wechsel zwischen Arbeits-, Lernplatz und dem privaten Raum zu Hause wichtig. „Gerade Erstsemester, die ihre Uni noch nie von innen gesehen haben, sind überfordert und wissen nicht, wie sie anfangen und wen sie ansprechen sollen“, sagt Laroche.

„Ich habe das Gefühl, dass wir uns nicht beschweren dürfen“

Zusätzlich zu den erschwerten Studienbedingungen verlor Studentin Lisa Nüsse, wie viele Studierende, ihren Nebenjob. Denn die Grundschulkinder, denen sie regelmäßig Nachhilfe gibt, blieben wegen Corona fern. Trotzdem hat die Studentin Hemmungen, sich öffentlich über die Umstände zu beklagen: „Ich habe das Gefühl, dass wir uns nicht beschweren dürfen, weil wir ja „nur“ zu Hause sitzen und online ja alles weiterlaufen kann.“

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Psychisch und auch finanziell sei die Corona-Zeit für viele Studentinnen und Studenten sehr belastend, so Anja Laroche vom ABZ. Ihr Kollege Tobias Heibel vermutet jedoch, dass viele Studierende glaubten, mit dem Gefühl der Isolation alleine zu sein. „Das Phänomen, der empfundenen Individualisierung durch den Distanzunterricht führt dazu, dass man erstmal schaut, wie man für sich selbst klarkommt“, so Heibel.

Studentin Lisa Nüsse meint: „In manchen Situationen hätte es einfach gereicht, wenn Studierende von der Politik öfter erwähnt worden wären und man nicht mehr das Gefühl bekommt, sich den Stress, den man durch Corona hat, einzubilden. Ich denke, deshalb hat der Aufschrei gefehlt.“

„Seit Corona bin ich deutlich flexibler“

Bei einigen Studierenden, wie dem 30-Jährigen Canberk Köktürk, ist ein Aufschrei gar nicht notwendig gewesen, „ganz einfach, weil digital alles gut funktioniert hat“. Der Student sagt sogar, dass er mit den Online-Semestern besser klargekommen sei, als je zuvor in der Uni. Neben seinem Politik-Studium an der Universität Duisburg-Essen geht er arbeiten und kümmert sich zusätzlich um einen Pflegefall in der Familie. „Viel Zeit fürs Studium hatte ich da nicht.“

Student Canberk Köktürk hat durch das digitale Studium neue Möglichkeiten bekommen, seinen Studienalltag flexibel zu gestalten.
Student Canberk Köktürk hat durch das digitale Studium neue Möglichkeiten bekommen, seinen Studienalltag flexibel zu gestalten. © Fabian Strauch / FUNKE Foto Services

In der Woche, sagt Köktürk, sei er teilweise 16 Stunden am Tag auf den Beinen gewesen, um zwischen Uni, Job, Familie und dem eigenen Zuhause hin und her zu pendeln. „Seit Corona bin ich deutlich flexibler und kann online von überall an den Vorlesungen teilnehmen.“

„Corona hat gezeigt, dass Digitalunterricht an Unis funktioniert“

Deshalb wünscht sich der Student künftig hybride Vorlesungsmodelle für junge Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht regelmäßig an den Vorlesungen vor Ort teilnehmen können. „Corona hat gezeigt, dass Digitalunterricht an Unis funktioniert.“

Auch Studierendenberaterin Anja Laroche betont, die Hochschulen hätten sich bemüht, digitale Tools für Erstsemester zum Studienstart zu entwickeln und die Studierenden, weitestgehend online, mitzunehmen. Fachschaften hätten zudem digitale Kneipenabende veranstaltet. „Aber natürlich kann man das normale Studentenleben dadurch nicht ersetzen“, so Laroche.