Düsseldorf. Viele Schuleingangsuntersuchungen fallen in diesem Jahr aus. Mediziner-Verband fordert mehr Personal und bessere Gehälter in Gesundheitsämtern.

Kinderschutzbund und Kinderärzte schlagen Alarm, weil in vielen Städten in NRW in diesem Jahr nicht einmal jeder fünfte Schulanfänger eine Schuleingangsuntersuchung bekommen wird. „Das ist nicht nur alarmierend, sondern geradezu eine Bankrotterklärung der verantwortlichen Politiker“, sagte Michael Achenbach, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe, dieser Redaktion.

Die Schuleingangsuntersuchung ist gesetzlich vorgeschrieben. Mit ihr sollen der Gesundheitszustand und die Entwicklung der Kinder eingeschätzt werden. Aber weil viele Beschäftigte des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes im Kampf gegen die Pandemie gebraucht werden, fehlen jetzt wichtige Informationen über die neu einzuschulenden Kinder.

Vielerorts werden nur 20 bis 50 Prozent der Kinder untersucht

Die Kommunen in NRW versuchen trotz knapper Personalressourcen, noch möglichst viele Kinder vor dem Start ins neue Schuljahr in den Gesundheitsämtern untersuchen zu lassen. Doch die Situation ist laut einer Umfrage dieser Zeitung in vielen nordrhein-westfälischen Großstädten Besorgnis erregend. Am Ende werden die Amtsärzte vielerorts nur 20 oder 50 Prozent dieser Kinder sehen.

In Köln wurden bisher nur 15 Prozent der künftigen Schüler untersucht. Möglicherweise steige die Quote bis zum Schulbeginn dort noch auf 20 Prozent, so ein Sprecher. In Gelsenkirchen hatten bisher sogar nur zwei Prozent eine Schuleingangsuntersuchung, in Bochum elf Prozent und in Dortmund zehn Prozent. Bochum hofft darauf, bis Ende August die Quote auf 17 Prozent zu erhöhen, Dortmund strebt 20 Prozent an.

Städte hoffen auf Unterstützung der Kinder- und Jugendärzte

In Essen, Mülheim, Bottrop und Oberhausen ist die Lage besser. Bottrop ist zuversichtlich, alle Kinder untersuchen zu können, Oberhausen möchte bis zum Schuljahresbeginn 1200 von 1900 Kindern untersuchen (bisher: 800). Essen strebt die Untersuchung des kompletten Jahrganges an, 3400 von 5800 angemeldeten Kindern waren dort schon dran. In Mülheim fehlen nur noch 300 von 1200 Untersuchungen. Dort werden aber zum Teil nur Seh- und Hörtests durchführt sowie die Impfausweise kontrolliert.

Die Städte wissen, welche Folgen der Ausfall der Untersuchungen haben kann. Und hoffen jetzt auf die Unterstützung der Kinder- und Jugendärzte. „Die niedergelassenen Kinderärzte sind mehr denn je gefragt, Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten diagnostisch und therapeutisch zu versorgen“, erklärte eine Sprecherin der Stadt Gelsenkirchen. Die Schulen hätten zudem die Möglichkeit, im neuen Schuljahr schulärztliche Untersuchungen beim Kinder- und Jugendgesundheitsdienst beantragen, wenn sie meinen, dass Kinder diese benötigten.

Mehr Auffälligkeiten bei Schuleingangsuntersuchungen in Essen

Dortmund bietet allen Eltern, deren Kinder nicht zur Untersuchung eingeladen wurden, als Notlösung eine telefonische Beratung mit einem Schularzt an. Die Stadt Essen weist auf ein weiteres Problem hin: Etwa 25 Prozent der angebotenen Termine seien von den Familien nicht wahrgenommen worden, zum Beispiel wegen Quarantäne-Anordnungen oder Erkrankungen.

Bei den bisherigen Untersuchungen fiel den Essenern Besorgnis erregende Befunde im Vergleich zum Vorjahr auf: mehr Übergewicht, mehr Koordinationsstörungen, mehr Förderbedarf bei der Auge-Hand-Koordination, fehlende Deutschkenntnisse in Familien mit Migrationshintergrund. Das Ausmaß der Probleme könne aber erst nach der Untersuchung des kompletten Jahrgangs bewertet werden.

„Wenn die Schuleingangsuntersuchungen nicht wie sonst üblich stattfinden können, ist das für die Kinder ein großes Problem“, sagte Krista Körbes, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in NRW, dieser Redaktion. Wenn die Chance, mögliche Entwicklungsrückstände zu entdecken, vertan werde, könnte der Schulstart für einige Kinder unnötig schwer werden. Der Kinderschutzbund rät dazu, niedergelassene Kinderärzte in die Untersuchungen einzubinden. In Wuppertal geschehe dies zum Beispiel schon.

Scharfe Kritik vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Westfalen-Lippe

Der Kinder- und Jugendmediziner Michael Achenbach kritisiert den Mangelzustand bei der Schuleingangsuntersuchung scharf: „Nach weit über einem Jahr der Pandemie hätten wir längst in der Lage sein müssen, die regulären Aufgaben des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes (KJGD) wieder anbieten zu können“, sagte der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe.

Die regulären Vorsorgeuntersuchungen bei den Kinderärzten könnten die Schuleingangsuntersuchungen, die in allen Gesundheitsämtern praktisch gleich ablaufen, nicht ersetzen. Dem KJGD werde vielerorts seit Jahren eine angemessene Personalausstattung verweigert, so Achenbach. Der Bund habe dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zwar 5000 neue Stellen versprochen, aber die würden bisher nicht geschaffen.

Achenbach nennt Bayern als gutes Beispiel: Der Freistaat will die Gesundheitsämter bis 2025 um fast 800 Stellen aufstocken. Und zahlt neuen Mitarbeitern bis zu 500 Euro im Monat mehr als „Personalgewinnungszuschlag“.