Düsseldorf. In dreieinhalb Monaten braucht NRW einen neuen Regierungschef. Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp erklärt, wie er die Lage sieht.
Der Bonner Joachim Stamp (50), Vize-Ministerpräsident mit Ressortzuständigkeit für Familie und Integration, soll am Wochenende zum FDP-Spitzenkandidaten für die nächste Landtagswahl im Mai 2022 gewählt werden. Ein Gespräch über Corona-Frust, liberale Herzensprojekte und die NRW-Koalition ohne Armin Laschet.
Herr Minister Stamp, die FDP stellt sich beim Listenparteitag in Dortmund als erste Partei bereits für die Landtagswahl 2022 auf. Haben Sie die Corona-Krise gedanklich abgehakt?
Nein, wir bleiben aufmerksam und demütig. Die Pandemie hat sich immer wieder als schwer berechenbar erwiesen und wir müssen aufpassen, dass uns nicht im Herbst eine böse Überraschung blüht. Trotzdem wollen wir uns frühzeitig personell und inhaltlich für die Fortsetzung unserer Modernisierungspolitik in Nordrhein-Westfalen aufstellen.
Zuletzt hatte man eher den Eindruck, gerade an den FDP-Ressorts Schule und Kitas entzündete sich viel Corona-Frust der Bürger…
In einer Krise, für die es kein Drehbuch gibt, stehen die für Millionen von Familien zuständigen Ministerien natürlich in besonderer Verantwortung. Häufig mussten wir kurzfristig Maßnahmen umsetzen, die von der Kanzlerin mit der Ministerpräsidenten-Konferenz mittwochs beschlossen wurden und montags gelten mussten. Ich habe Verständnis dafür, dass das vor Ort immer mal auch zur Verärgerung geführt hat, zumal die Bedrohung durch das Virus von den Betroffenen individuell völlig unterschiedlich eingeschätzt wird. Im Rückblick wird an der einen oder anderen Stelle auch Kritik berechtigt sein, aber unter dem Strich, denke ich, haben wir es sehr ordentlich und vor allem verantwortungsvoll hingekriegt.
War es ein Fehler, dass Sie außer dem Wirtschaftsressort in der Regierung Laschet keine klassischen FDP-Ministerien übernommen haben?
Im Gegenteil, als Freie Demokraten wollen wir ja eine Gesellschaft voranbringen, die Aufstiegschancen schafft. Eine Gesellschaft, in der jeder seine Talente unabhängig von der Herkunft entfalten kann. Die Kinder- und Bildungsministerien schaffen Chancen für Menschen – das ist FDP pur. Die Corona-Krise kann nicht überblenden, dass wir gerade hier etwa mit der Reform des Kinderbildungsgesetzes, dem schulscharfen Sozialindex, mit den Talentschulen, der Stärkung von Förderschulen wichtige Fortschritte erzielt haben.
Bleibeperspektive für gut Integrierte, konsequente Abschiebung für Straftäter
Welches große Projekt wollen Sie bis zur Landtagswahl noch umsetzen?
Neben Bildung und Digitalisierung bleiben Migration und Integration herausfordernde Themen. Die Reform des Teilhabe- und Integrationsgesetzes wird jetzt ein wichtiger Meilenstein. Sie wird alle lokalen Akteure systematisch vernetzen und ein bundesweit einzigartiges Fallmanagement ermöglichen. Wir stärken zudem die Ausländerämter und erreichen mit ihnen gemeinsam einen Mentalitätswandel: Gut integrierte Geduldete bekommen bei uns bessere Bleibeperspektiven als in nahezu allen anderen Bundesländern. Gleichzeitig werden Integrationsverweigerer oder straffällig gewordene Migranten besonders konsequent zurückgeführt.
Warum halten Sie den umstrittenen türkischen Moscheeverband Ditib für einen geeigneten Partner bei der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts?
Ditib in NRW ist ein großer und sehr heterogener Landesverband, der satzungsmäßig sichergestellt hat, dass er nicht von der Religionsbehörde aus Ankara ferngesteuert werden kann. Ditib stellt auch nur eines von sechs Mitgliedern einer Kommission, die wissenschaftlich begleitet wird. Für uns ist völlig klar: Wer sich nicht an die Spielregeln hält, fliegt sofort raus.
Ministerpräsident Laschet wechselt nach der Bundestagswahl nach Berlin. Wie stabil steht dann noch die schwarz-gelbe Koalition, die nur über eine Stimme Mehrheit verfügt?
NRW wird nicht führungslos sein. Wir haben in vier Jahren nicht eine Abstimmung verloren und arbeiten anders als die Große Koalition in Berlin vertrauensvoll zusammen – auch dank der Fraktionsvorsitzenden Rasche und Löttgen. Selbst in der Ausnahmesituation der Pandemie, in der wir als FDP besonders bei Grundrechtseingriffen stets um die Verhältnismäßigkeit gerungen haben, kamen wir zu guten Lösungen. Dieser Stil wird auch ohne Armin Laschet fortgesetzt.
Wie ein FDP-Mann den CDU-Personalstreit lösen könnte
Wählt die FDP im Oktober im Landtag jeden Kandidaten zum Ministerpräsidenten, den die CDU-Fraktion Ihnen als Laschet-Nachfolger serviert?
Nein, wir werden auch das partnerschaftlich besprechen.
Da in der CDU offenbar Uneinigkeit herrscht über die Laschet-Nachfolge, gibt es sogar die Spekulation, Sie als Vize-Ministerpräsident könnten die Regierung kommissarisch zu Ende führen. Realistisch?
Wir werden in der Koalition eine gemeinsame Lösung finden. Normalerweise stellt der größere Koalitionspartner den Regierungschef, auch wenn der Grünen-Politiker Michael Vesper 2002 einmal drei Wochen lang geschäftsführender Ministerpräsident war.
Gilt für Sie eigentlich perspektivisch: Lieber nicht regieren als in einer Ampel mit SPD und Grünen zu regieren?
Ich habe einen Gestaltungsanspruch. Es muss aber immer klar sein, dass wir unsere Grundsätze in einer Regierung wiederfinden. Grundsätzlich müssen alle demokratischen Parteien miteinander kompromissfähig sein. Ich sehe jedoch eine gute Perspektive, dass wir unsere erfolgreiche Zusammenarbeit mit der CDU fortsetzen können. Das Land braucht nach der Krise eine Aufbruchsstimmung und kein grünes Biedermeier.