Essen. Selbst tiefgläubige Christen wenden sich resigniert von der Amtskirche ab. Ursache dafür ist aber nicht nur der Missbrauchsskandal.

Es ist ja nicht so, dass es an dramatischen Mahnungen gefehlt hätte in der Chefetage der katholischen Kirche Deutschlands. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck diagnostizierte der Amtskirche „eine Vertrauenskrise extremsten Ausmaßes“. Overbecks Amtskollege Georg Bätzing aus Limburg warnte, die Kirche sei auf dem Weg zu einer „kleinen Sekte der Beharrlichen und Beharrenden“. Und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg bemängelte unverblümt die schwindende Relevanz der Kirchen: „Ich habe die große Befürchtung, dass wir mittlerweile als Sondergruppen ohne Bedeutung für die Allgemeinheit wahrgenommen werden.“

Kardinal Marx sieht die Kirche an einem "toten Punkt"

Doch was der Münchner Kardinal Reinhard Marx am vergangenen Freitag in seinem Rücktrittsgesuch an den Papst mit nur zwei Worten konstatierte, das übertraf alle wortreich warnenden Stimmen der letzten Jahre. Die katholische Kirche insgesamt, so Marx, sei an einem „toten Punkt“. Dieses Urteil aus dem Mund des bekanntesten Oberhirten der Republik, bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, kommt einem Offenbarungseid gleich.

Überkommene Rituale, reformunfähig, leblos

Aber Marx‘ drastisches Verdikt spiegelt nur das Bild wider, das längst weite Teile der Bevölkerung von der katholischen Kirche haben: erstarrt in überkommenen Ritualen, reformunfähig, leblos. Immer mehr Menschen wenden sich ab. Die Zahl der Kirchenaustritte wuchs in den letzten Jahren stetig. Nun beobachten die Verantwortlichen in den Bistümern, dass nicht mehr nur jene der Kirche den Rücken kehren, die sich die Kirchensteuer sparen wollen; selbst tiefgläubige Christen, für die der Austritt einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben darstellt, verlassen resigniert die Kirche. „Es gehen inzwischen die Treuesten der Treuen“, sagt einer, der Einblick hat in das Innenleben der katholischen Kirche Deutschlands.

Missbrauchsskandal verstärkt den Negativ-Trend

Eine erste Bilanz der Austrittszahlen für die ersten vier Monate 2021 deutet darauf hin, dass dieser Trend anhält. Der Exodus, so scheint es, ist nicht zu stoppen. Wo liegen die Ursachen? Der sexuelle Missbrauch durch katholische Amtsträger und die nur zögerliche Bereitschaft zu einer transparenten und rückhaltlosen Aufarbeitung in vielen Bistümern haben zweifellos den Negativ-Trend verstärkt. Doch die eigentlichen Ursachen liegen noch tiefer.

Die Ursachen liegen tiefer

Die Strukturfrage: Immer noch regieren in nicht wenigen Bistümern Bischöfe mit beinahe monarchistischer Attitüde. Sie umgeben sich mit Ja-Sagern, dulden keinen Widerspruch und betrachten Reformen als Teufelswerk. Zum Gesicht dieser erzkonservativen Fraktion in der Bischofskonferenz ist der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki geworden. Woelki verhielt sich beim Umgang mit dem Missbrauchsskandal so stur, dass es selbst dem Papst zuviel wurde; in diesen Tagen nehmen zwei von Franziskus entsandte Kontrolleure Woelkis Verhalten in dem Skandal unter die Lupe. Woelki ließ bereits mitteilen, anders als Kardinal Marx denke er nicht an Rücktritt. Auch als eine Düsseldorfer Kirchengemeinde den Kardinal ausdrücklich aufforderte, an diesem Mittwoch nicht wie geplant zur Firmung von 17 Jugendlichen anzureisen, blieb Woelki uneinsichtig – er halte an seinem Besuch fest.

Fern von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen

Die Moralfrage: Die Lebenswirklichkeit vieler Menschen läuft der Kirche schon seit langem davon. Der rigide Umgang mit wieder verheirateten Geschiedenen beispielsweise, oder mit Homosexualität wird schon lange von vielen Menschen, nicht nur von jungen Leuten, als Ausgrenzung der Betroffenen und als weltfremd angesehen. Diese Sicht ist inzwischen auch in der Runde der Bischöfe angekommen. Sie wissen: Die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare wird in vielen Gemeinden vor Ort längst praktiziert. Was den Vatikan aber nicht daran hinderte, im vorigen März diese Segnungen kategorisch für unzulässig zu erklären.

Männerbündlerische Strukturen beklagt

Die Frauenfrage: In vielen Kirchen vor Ort wird die Gemeindearbeit vor allem durch Frauen getragen – doch wenn es um wichtige Positionen in der Amtskirche geht, verteilen die Männer die Macht unter sich. Nicht nur die 2019 gegründete Reformbewegung „Maria 2.0“, die sich für Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche einsetzt, beklagt männerbündlerische Strukturen und zementierte Hierarchien in der Amtskirche. Anfang des Jahres kündigten die beiden Gründerinnen von „Maria 2.0“ entnervt ihren Austritt aus der Kirche an.

Kirchliche Positionen in der Gesellschaft oft irrelevant

Insgesamt kommt man nicht an dem Befund vorbei, dass sich die Kirche immer mehr von der gelebten Realität der Menschen, auch vieler ihrer (Noch-)Mitglieder entfernt. In den meisten gesellschaftlichen und politischen Debatten spielen die Kirchen kaum noch eine Rolle. Viele der kirchlichen Positionen seien gesellschaftlich irrelevant geworden, beklagt man im Umfeld der Bischofskonferenz. Ob in der Flüchtlingspolitik, bei sozialpolitischen Themen oder in der Corona-Krise – die Reaktionen auf kirchliche Debattenbeiträge erschöpfen sich nicht selten in freundlichem Desinteresse. Der Missbrauchsskandal hat der Kirche als moralische Institution einen zusätzlichen Schlag versetzt. In seinem Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus schreibt Kardinal Marx, er empfinde es als „schmerzhaft, wie sehr das Ansehen der Bischöfe (…) gesunken, ja möglicherweise an einem Tiefpunkt angekommen ist“.

Info: Mehr als 272.000 Katholiken traten 2019 in Deutschland aus der Kirche aus – so viele wie in keinem Jahr zuvor. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. 2019 zählte die katholische Kirche hierzulande 22,6 Millionen Mitglieder. Zehn Jahre zuvor waren es noch etwa zwei Millionen mehr. Ähnlich sieht es in der evangelischen Kirche aus. Dort traten 2019 rund 270.000 Menschen aus – etwa 22 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Protestanten sank somit auf 20,7 Millionen.