Essen/Bonn. Was taugt das föderale System in der Krise? Darauf gibt es keine einfache Antwort, meint der Bonner Politologe Frank Decker.
Hat der Föderalismus dem Krisenmanagement der Corona-Pandemie eher genützt oder geschadet?
Frank Decker: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Durch die erste Phase der Pandemie sind wir mit unserem föderalen System ja wesentlich besser gekommen als etwa das zentralstaatlich organisierte Frankreich. Gerade das Fehlen dezentraler Strukturen war dort ein Problem. Der positive Blick hat sich jetzt bei der zweiten Welle der Pandemie eingetrübt. Trotzdem müssen wir auch jetzt fragen: Sind eigentlich die föderalen Strukturen die Ursache für die derzeitigen Probleme oder sind es nicht andere Dinge? Außerdem gibt es kein klares Muster. Länder mit hohen Covid19-Todesraten sind etwa die Schweiz und die USA, also Länder, die sogar noch stärker föderal organisiert sind als Deutschland. Auf der anderen Seite haben wir klassische Zentralstaaten wie Schweden mit einer sehr hohen Mortalitätsrate.
Nach Monaten hoher Zustimmungswerte steht das Krisenmanagement von Bund und Ländern derzeit schwer unter Druck. Zu Recht?
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Natürlich gibt es Grund zur Kritik, etwa an der schlechten Kommunikation der Politik in der zweiten Welle, die auch etwas mit dem Föderalismus zu tun hat. Das hätte man innerhalb der vorhandenen Strukturen klar besser machen können. Wenn NRW-Ministerpräsident Armin Laschet jüngst in einer Talkshow nicht in der Lage war, die neuen Weihnachtsregeln zu erklären, ohne auf seinen Zettel zu schauen, verstärkt das natürlich die Verunsicherung in der Bevölkerung.
Noch immer gilt Angela Merkel als mächtigste Frau der Welt. Aber gegen die Riege der Ministerpräsidenten konnte sich die Bundeskanzlerin im Herbst mit ihren Forderungen nach härteren Corona-Maßnahmen nicht durchsetzen. Wie ist das zu erklären?
Wir haben ein Führungsvakuum an der Spitze. Merkel ist eine „lame duck“, eine Bundeskanzlerin, die erklärt hat, nicht mehr zu kandidieren. Gleichzeitig gibt es eine Führungskrise der größten Regierungspartei, der CDU. Und anders als noch in der Flüchtlingskrise 2015 hat Merkel heute nicht mehr die notwendige Autorität, um sich gegen Widerstände der Unions-Ministerpräsidenten durchzusetzen. Sie hat diese Kraft weiterhin auf europäischer Ebene, jedoch nicht mehr in der deutschen Innenpolitik. Ich glaube sogar, sie hat da auch ein Stück weit resigniert. Für die neuen Corona-Maßnahmen hätte ich eine Fernsehansprache der Bundeskanzlerin erwartet. Das wäre nötig gewesen, um der Bevölkerung den Ernst der Lage deutlich zu machen. Diese Gemengelage erklärt die derzeitigen Probleme besser als die zeitweilige Vielstimmigkeit der Ministerpräsidenten.
Sitzen die Länder bei den Corona-Maßnahmen nicht ohnehin am längeren Hebel?
Ja, die Länder müssen die Maßnahmen umsetzen. Sie haben dabei auch einen gewissen Spielraum, obwohl der Bund durch die Novelle des Infektionsschutzgesetzes zusätzliche Kompetenzen erhalten hat. Angesichts unterschiedlicher Pandemieentwicklungen ist die Frage berechtigt, ob Maßnahmen in den Länder nicht auch unterschiedlich ausfallen dürfen. Warum sollen dort, wo die Inzidenzen niedrig sind, dieselben harten Maßnahmen gelten wie in Ländern mit sehr hohen Inzidenzwerten? Im Föderalismus kann man diese Verbindung von Einheitlichkeit und notwendiger Differenzierung durchaus herstellen. Das wäre etwa durch die Einführung eines Ampelsystems der Inzidenzwerte möglich gewesen. Doch das hat die Politik verpasst.
Hat der Föderalismus im Ansehen der Bevölkerung gelitten?
Ja, absolut. Doch das ist nichts Neues. Der Föderalismus hat in Deutschland mit einem tief sitzenden Widerspruch zu kämpfen. Die Leute identifizieren sich zwar stark mit ihrem Bundesland. Doch sie wollen auch, dass vieles in Deutschland einheitlich geregelt ist. Denken Sie nur an die Schulpolitik. Es ist den Bürgern heute kaum mehr vermittelbar, warum es beispielsweise kein einheitliches Abitur gibt oder es beim Umzug in ein anderes Bundesland zu Problemen mit dem Schulwechsel kommt.
Was sind die Ursachen?
Das muss man historisch verstehen. Deutschland ist sehr spät Nationalstaat geworden. Das Bedürfnis nach Einheitlichkeit war immer groß. Andererseits ist die Idee des Föderalismus ja, Vielgestaltigkeit zu ermöglichen. Der Wettbewerb hat auch viel Positives. Man kann voneinander lernen. Ein föderales Staatswesen ist von Natur aus aber schwerfällig, auch dafür gibt es bisweilen wenig Verständnis in der Bevölkerung.
Wäre ein bundesweit einheitliches Schulsystem überhaupt durchsetzbar?
Ich glaube nicht. Die Länder klammern sich an ihre Schulsysteme, weil es ihr wichtigster hoheitlicher Bereich ist. Die vorhandenen Strukturen haben ein großes Beharrungsvermögen. Wenn man den Ländern den Schulbereich wegnimmt, bleibt kaum noch etwas übrig. Zum Föderalismus gehört aber ein Minimum an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.
Die Länder können aber doch durch den Bundesrat großen Einfluss auf die Politik des Bundes nehmen?
Natürlich. Das ist vielen Bürgern gar nicht klar, was auch daran liegt, dass es in der Ländervertretung keine gegenläufigen Mehrheiten mehr gibt. Früher wurde der Bundesrat regelmäßig von der Opposition genutzt, um die Arbeit der Bundesregierung zu konterkarieren. Das findet heute kaum noch statt. Ein Beispiel: Die Grünen regieren in elf Bundesländern mit und wirken über den Bundesrat – ohne dass das groß auffällt – recht harmonisch an der Bundesgesetzgebung mit. Dieses Element der Mitwirkung ist stärker ausgeprägt als das Element der Eigenständigkeit der Länder. Es ist für die Länder auch bequemer.
Warum?
Sie sind bei allen Prozessen beteiligt, werden aber nicht in Haftung genommen. Bei der Föderalismusreform 2006 waren viele Länder, vor allem die kleineren, gar nicht scharf darauf, mehr Kompetenzen zu bekommen.
1996 gab es die letzte Abstimmung über eine Zusammenlegung von Bundesländern. Kommt so etwas nochmal?
Es gab zwei Abstimmungen über Zusammenlegungen von Bundesländern. 1952 entstand so das Land Baden-Württemberg. 1996 stimmten die Brandenburger gegen ein Zusammengehen mit Berlin. Das Thema Neugliederung ist heute durch. Es wird sie nicht geben und sie ist auch nicht wirklich nötig.
Warum nicht? Die Kosten für 16 Regierungsapparate sind doch hoch?
Aber in der Tendenz eher zu vernachlässigen. Und: Auch Zentralstaaten brauchen dezentrale Strukturen, die ebenfalls Kosten erzeugen. Ärgerlich ist es, wenn es überflüssige Kosten gibt, etwa durch aufgeblähte Parlamente. Doch das könnte man durch das Wahlrecht anders regeln. Politik hat auch die Aufgabe, den Menschen zu vermitteln, dass es Demokratie nicht zum Selbstkostenpreis gibt. In der Pandemie hat sich gezeigt, wie gut es ist, sich ein flächendeckendes Netz von Gesundheitsämtern zu leisten. In andere Länder wie zum Beispiel Frankreich hat sich das Fehlen solcher Strukturen als Problem erwiesen.
Wie wichtig ist der Föderalismus für die Demokratie?
Sehr wichtig. Dezentralisierung ist ein Element der Machtkontrolle. Der Föderalismus ist eine Art Gewaltenteilung in der Vertikalen. Entscheidend ist, dass man den Ländern ihre Befugnisse gegen ihren Willen nicht wegnehmen kann.
Die Runde der 16 Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin hat sich in der Corona-Krise zu einer neuen Machtzentrale entwickelt. Ist das in Ordnung?
Die Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin ist kein Verfassungsorgan. Insoweit dürfte sie eigentlich nicht existieren. Aber eine solche Sichtweise wäre natürlich weltfremd. Jenseits der Verfassung bilden sich immer Gremien institutionell heraus. Das ist auch notwendig. Es geht ja darum, das Regierungshandeln zwischen Bund und Ländern zu koordinieren. Die Corona-Krise macht jetzt nur eine Struktur sichtbar, die es im deutschen Föderalismus schon immer gegeben hat: seine exekutive Schlagseite.
Was genau meinen Sie damit?
Der Exekutivföderalismus gehört zur deutschen Tradition. Er ist im normalen Regierungsalltag nur sonst seltener sichtbar als zurzeit. Auch im Bundesrat sitzen ja die Vertreter der Länderregierungen zusammen. Und unterhalb der Ebenen der Ministerpräsidentenrunde und Ministerkonferenzen gibt es in der Bundesrepublik hunderte von Koordinationsgremien in den verschiedenen Politikbereichen. Dort sitzen überall Vertreter der Regierungen zusammen. Auch in anderen Bereichen des Regierungssystems gibt es informelle Strukturen, die sich längst verfestigt haben, denken Sie an Koalitionsgremien, die stehen auch in keiner Verfassung. Das jetzt als großes Demokratieproblem hinzustellen, halte ich für falsch.
Städte und Gemeinden kommen im föderalen System als eigenständige staatliche Ebene nicht vor. Viele Kommunen beklagen das. Sollte man etwas ändern?
Ja, ich glaube schon. Formal gehören die Kommunen zu den Ländern. Die Länder könnten den Kommunen durchaus mehr Gestaltungsmöglichkeiten überlassen. Doch dafür müssten sie sie auch finanziell besser ausstatten. Das Problem: Weil die Länder im Verhältnis zum Bund relativ wenige Kompetenzen haben, halten sie sich bei den Kommunen schadlos. Sie mischen sich oft in Dinge ein, die die Städte und Landkreise selbst regeln könnten. In der Schulpolitik hier in NRW konnte man das gerade wieder erleben.
Was halten Sie eigentlich von Regionalstrukturen wie sie sich hier im Ruhrgebiet mit dem Regionalverband Ruhr entwickelt haben?
Für das Ruhrgebiet hat mir das immer sehr eingeleuchtet. Das Ruhrgebiet ist ein Ballungsraum, in dem es noch viele kommunale Eigenmächtigkeiten gibt. Eine eigene Struktur hilft hier, um Synergien zu erzeugen und die Koordinierung zu verbessern. Das kann nicht allein das Land regeln.
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