Essen. Wenn die Corona-Angst auf den November-Blues trifft, ist das noch keine Katastrophe für die Seele, so Forscher. Sorgen gibt es dennoch.
Corona-Angst, November-Blues und jetzt auch noch Kontaktbeschränkungen: Weit verbreitet sind die Sorgen, dass die anhaltende Krise gerade in der beginnenden „dunklen“ Jahreszeit Psyche und Seele besonders belasten. Auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt sehen viele angesichts der heftiger werdenden Debatten über das Für und Wider der Maßnahmen in Gefahr. Forscher aus dem Ruhrgebiet halten dagegen. Der Mensch sei psychisch gut gerüstet für die Bewältigung selbst großer Krisen. Er neige wegen seines „kognitiven Bauplans“ aber gelegentlich dazu, falsche Schlüsse zu ziehen.
"Menschen können eine Menge wegstecken“
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„Bei allen berechtigten Sorgen und Ängsten sollten wir die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Stimmung nicht überschätzen. Menschen können eine Menge wegstecken“, betont Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Bochumer Ruhr-Universität. Untersuchungen belegten, dass etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung über eine stabile psychische Verfassung verfügten. Das sei im internationalen Vergleich ein hoher Wert, so Margraf.
Kontaktbeschränkung wird zur Belastung
Sorgen bereitet ihm das Gebot, jetzt wieder verstärkt auf soziale Kontakte zu verzichten. „Wir sind soziale Wesen, und zwar viel mehr, als uns das bewusst ist“, sagt Margraf. Das zeitweilige Fehlen sozialer Kontakte sei zwar keine Katastrophe, könne aber zum Problem werden. Margraf: „Das müssen wir ernst nehmen.“ Die Annahme, psychisch labile Menschen seien unter dem Eindruck der Corona-Krise gerade in den trüben Wintermonaten besonders suizidgefährdet, bezeichnete Margraf hingegen als „Mythos“. „Das ist falsch“, so der Psychologe. Untersuchungen zeigten, dass im Frühjahr und Sommer mehr Menschen freiwillig aus dem Leben schieden als im Herbst und Winter.
Die Neigung, das Risiko zu unterschätzen
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Als Problem sieht Margraf derzeit den Krisen-Gewöhnungseffekt an. „Wir denken, das kennen wir schon aus dem Frühjahr. Deswegen sind wir geneigt, das Risiko zu unterschätzen.“ Ohnehin werde das menschliche Verhalten weitgehend von kurzfristigen Tendenzen gesteuert, nicht von langfristigen. Margraf: „Dieser kognitive Bauplan steckt in jedem von uns, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht. Wenn es anders wäre, gäbe es keine Raucher mehr.“ Entscheidend dafür, wie gut wir den Stress der kommenden Wochen aushalten, sei daher, ob die Gefahr als kontrollierbar und vorhersehbar wahrgenommen werde. Margraf: „Es hilft uns gerade, dass die Entwicklung eines wirksamen Corona-Impfstoffes absehbar ist. Die Hoffnung auf Erfolg motiviert uns, Probleme aktiv zu bewältigen.“ Andererseits sei der Mensch auch ein ungeduldiges Wesen. „Wie wir durch die nächsten Wochen kommen, hängt also auch von unserer Disziplin ab“, sagt Margraf.
Erstmals keine Verdoppelung
Beunruhigt vom sprunghaften Anstieg der Neuinfektionen ist auch der Soziologe Johannes Weyer. Der Dortmunder TU-Professor sieht aber erste Anzeichen von Entspannung. 16.774 Neuinfektionen am gestrigen Donnerstag seien zwar „ein Wahnsinn“. Weyer: „Aber die gute Nachricht lautet: Erstmals haben wir keine Verdopplung der Zahlen im Vergleich zur Vorwoche.“ Dies könne bereits eine Folge der ersten Schreckensmeldungen von vor zwei Wochen sein, glaubt der Forscher.
Digitalisierung könnte helfen
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Weyer, der in Dortmund Techniksoziologie lehrt, fordert einen unbefangeneren Einsatz digitaler Techniken zur Bewältigung der Corona-Krise. „Japan hat uns gezeigt, dass man mit Gemeinschaftssinn und Selbstdisziplin einen Lockdown vermeiden kann. Südkorea hat es mit massivem Einsatz von Überwachungstechnik geschafft. Ich bin mir sicher, dass viele von uns bereit wären, ihre Corona-App so umzurüsten, dass sie ein wirkungsvolles Instrument bei der Nachverfolgung von Infektionsketten wäre“, so der Wissenschaftler. Heißt für Weyer im Umkehrschluss: „Würden wir freiwillig auf ein bisschen Datenschutz verzichten, könnten wir wieder ins Kino gehen und müssten uns um unseren Arbeitsplatz keine Sorgen machen.“
Zehn Prozent Totalverweigerer
Ein Dorn im Auge ist den Wissenschaftlern der harte Kern der Uneinsichtigen. Weyer: „Wir wissen aus unseren Untersuchungen, dass ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung Totalverweigerer sind. Leute, die man dazu zwingen muss, die Maske zu tragen und Abstand zu halten.“ Von ihnen gelte es, sich fernzuhalten. Auch Jürgen Margraf bestätigt die Zahl. Für Johannes Weyer ist klar: „Wir müssen vermeiden, dass sie das Virus weitertragen und so das exponentielle Wachstum füttern. An Kontaktbeschränkungen führt kein Weg vorbei.“