Düsseldorf. Wurde beim Skandal um Neonazi-Chats im Präsidium Essen/Mülheim wirklich überreagiert? Minister Reul lieferte jetzt erschütternde Einzelheiten.

Alles nur eine „Hexenjagd“ auf unbescholtene Polizeibeamte? Ein politisch-korrekter Popanz aus nichtigen Gründen? Als NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Donnerstag im Fachausschuss des Landtags einen aktuellen Sachstand zu rechtsextremistischen Tendenzen im Polizeipräsidium Essen/Mülheim geben soll, ringt er zwischenzeitlich um seine freundlich-rheinische Contenance. Als „unverschämt“, ja beinahe „verletzend“ habe er vieles empfunden, was in den vergangenen Tagen über seine Personalführung gesagt und geschrieben wurde. Er könne doch „niemanden mit der Dienstwaffe herumrennen lassen“, der möglicherweise nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehe.

Was war geschehen? Mitte September hatte Reul öffentlich gemacht, dass auf dem Handy eines Beamten des Mülheimer Streifendienstes zufällig 18 Chatgruppen mit zum Teil rechtsextremen Bildern und Beiträgen gefunden wurden. Der Innenminister ordnete die sofortige Suspendierung von 31 Polizisten einer gesamten Mülheimer Dienstgruppe an, die irgendwie in die Vorgänge verwickelt schienen.

Feierabendbier mit Neonazis in deren Stammkneipe

Peinlich für Reul: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf beförderte eine Beamtin zurück in den Dienst, weil sie lediglich vor Jahren eine billige Hitler-Parodie per WhatsApp empfangen haben soll. Daraus seien keinerlei Zweifel an ihrer Eignung als Polizistin abzuleiten. In der Folge hob das Land auch die Suspendierung von acht weiteren Beamten wieder auf.

Dennoch trat Reul am Donnerstag im Landtag energisch dem Eindruck entgegen, er habe mit Kanonen auf Spatzen gezielt. „Wir mussten befürchten, dass eine ganze Dienstgruppe über Jahre hinweg schlimmste neonazistische, antisemitische und rassistische Hetze geteilt hat“, betonte er. Dass er keineswegs zu Unrecht Gefahr im Verzug sah und hart reagierte, machte der Innenminister anhand von konkreten, krassen Verfehlungen erstmals öffentlich.

Auf dem Handy eines Polizisten dieser Dienstgruppe, das sogar Kontakte zu den „Bandidos“ unterhalte und „regelmäßig sein Feierabendbier mit Neonazis, Hooligans und Rockern in deren Stammkneipe trinkt“, seien bereits über 150 strafrechtlich relevante Handy-Inhalte gefunden worden, so Reul. Ein anderer Beamter habe sich mit Hitler-Gruß auf zwei Streifenwagen stehend ablichten lassen und Musik inkriminierter Bands gehortet. Ein anderer Polizist habe Fotos von Weihnachtsbaum-Kugeln „mit SS-Runen und ‚Sieg Heil‘-Aufschriften“ gehortet. Ein weiterer sammelte Handy-Fotos, die ein aus Dienstmunition gelegtes Hakenkreuz zeigten. Dazu ein Video, auf dem mehrere Beamte bei einer Planwagenfahrt „Deutschland, Deutschland über alles“ grölen.

Landesweit schon 151 Beschäftigte der Sicherheitsbehörden unter Extremismusverdacht

Es herrscht betretene Stille im Saal, als Reul schonungslos die Verfehlungen der Polizisten aus dem Präsidium Essen/Mülheim referiert. „Die Konsequenz war richtig. Da können Sie alle über mich herfallen, ist mir egal“, schnaubt Reul. Der gelernte Sozialwissenschaftslehrer, der sich mit einer „Null Toleranz“-Linie seit drei Jahren auf vielen Kriminalitätsfeldern einen Namen gemacht hat, lässt keinen Zweifel: Er will den braunen Sumpf trocken legen. Aktuell ermittelten 100 Beamte in eigener Sache. Landesweit seien 151 Beschäftigte in den Sicherheitsbehörden durch extremistisches Verhalten aufgefallen. Gegen 113 seien dienst- oder arbeitsrechtliche Verfahren eingeleitet worden. Sechs Kommissaranwärter wurden entlassen. Zwei Regierungsbeschäftigte seien abgemahnt, einer sei gekündigt worden.

Jeder zu Unrecht verdächtigte Beamte werde rehabilitiert, versicherte der Minister. Allerdings seien erst 40 Prozent aller inzwischen beschlagnahmten Datenträger ausgewertet worden. Und schon jetzt zeichnet sich etwa in Essen/Mülheim ab, dass es bei der Aufklärung der Neonazi-Chats „Beifang“ geben werde, wie es Reul ausdrückte. Gegen zwei Polizistinnen und zwei Dienstgruppenleiter wird dort ermittelt, weil sie den gewalttätigen Übergriff eines der Chat-Teilnehmer gedeckt haben sollen. Er soll einen bereits fixierten Mann mit Wurzeln in Montenegro geschlagen haben. Einer der Vorgesetzten führte ausgerechnet die Mülheimer Dienstgruppe, die im Zentrum des Skandals steht.

„Ich bin sicher“, bilanzierte Reul, „dass wir keine andere Möglichkeit hatten, als jedem Verdacht nachzugehen und jeden Verdächtigen erst einmal aus dem Dienstbetrieb zu nehmen.“