Essen. Die Zahl der Corona-Infektionen ist auf einem neuen Höchststand, weite Teile von NRW Risikogebiet. Wie Virologe Ulf Dittmer die Lage einschätzt.
Fast das gesamte Ruhrgebiet ist nun Corona-Risikogebiet. 20 Städte und Kreise in Nordrhein-Westfalen haben inzwischen die Warnstufe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten. Zugleich meldete das Robert-Koch-Institut am Donnerstag mit bundesweit 6638 Neuinfektionen an einem Tag einen neuen Höchststand.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs haben sich auf schärfere Regelungen im Kampf gegen die Pandemie geeinigt. Reichen die Maßnahmen aus, um das Virus einzudämmen? Christopher Onkelbach fragte den Leiter des Instituts für Virologie am Uni-Klinikum Essen, Prof. Ulf Dittmer.
Halten Sie die von Bund und Ländern beim Coronagipfel beschlossenen Maßnahmen für ausreichend?
Ulf Dittmer: Ja, ich glaube, die Maßnahmen sind angemessen. Sie betreffen vor allem den privaten Bereich, hier liegt das größte Risiko. Aus den Daten der Gesundheitsämter wissen wir, dass es dort die meisten Ansteckungen gibt. Es ist daher richtig, hier Einschränkungen zu machen. Ob das greifen wird, sehen wir aber erst frühestens nach zehn Tagen. Und die Frage ist, wie die Einhaltung der Regeln kontrolliert werden kann.
Sind sie überrascht von den derzeit stark steigenden Infektionszahlen?
Ich habe erwartet, dass die Infektionen im Herbst und Winter wieder zunehmen werden. Dennoch täuschen die Zahlen etwas. Wir hatten im Frühjahr sicher fünfmal mehr Infektionen als bekannt wurden. Die Dunkelziffer war hoch, weil noch nicht so viel getestet wurde. Jetzt machen wir viel mehr Coronatests. Obwohl aktuell die Zahlen hoch sind, sind wir also von den Infektionszahlen im Frühjahr noch weit entfernt.
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Hatten Sie mit dem aktuellen Anstieg gerechnet?
Mich hat überrascht, wie früh wir eine massive Rückkehr des Virus erleben, nicht nur in Deutschland. Ich habe zwar mit einem Anstieg gerechnet, aber erst später im Jahr, wie es bei anderen Coronaviren meist der Fall ist. Das zeigt, dass dieses Virus Sars-Cov-2 sich sehr effizient verbreitet. In einigen Städten in Brasilien wurden in wenigen Monaten bis zu 60 Prozent der Bevölkerung infiziert. Das zeigt, welches Vermehrungspotenzial das Virus hat ohne Gegenmaßnahmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, die Maßnahmen reichen vermutlich nicht, um „Unheil von uns abzuwenden“. Teilen Sie diese Besorgnis?
Wir können nicht sagen, dass wir die Entwicklung gut im Griff haben. Die Krankenhäuser füllen sich wieder ganz erheblich mit Covid-Patienten. Am Klinikum Essen behandeln wir derzeit wieder fast so viele Patienten wie im Frühjahr. Das liegt aber auch daran, dass viele umliegende Häuser die Patienten zu uns schicken.
Kann man ein exponentielles Wachstum der Infektionszahlen noch verhindern?
Wir haben schon in ein exponentielles Wachstum. Die Kurve steigt wieder ebenso steil wie im Frühjahr. Aber auch im Frühjahr ist es gelungen, die Entwicklung zu stoppen und umzudrehen. Ich will daher nicht davon sprechen, dass die Ausbreitung völlig unkontrollierbar ist. Aber ohne die einschränkenden Maßnahmen könnte sie unkontrollierbar werden.
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Sind die neuen Maßnahmen streng genug, um das Virus einzudämmen?
Das Problem betrifft vor allem den privaten Bereich. Es macht keinen Sinn, drastischere Maßnahmen zu treffen in Bereichen, die nicht so stark zum Infektionsgeschehen beitragen. Geschäfte, Restaurants oder Frisöre zu schließen, steht daher nicht im Fokus. Aber private Feiern, Partys und Zusammenkünfte müssen wir stärker reglementieren.
Wie können nun besonders gefährdete Personen geschützt werden?
Ein komplettes Besuchsverbot in Alten- oder Pflegeheimen müssen wir vermeiden. Die Kollateralschäden einer langfristigen Isolierung sind zu hoch. Wir haben in der Pandemie ja viel gelernt, es gibt inzwischen gute Konzepte, Risikogruppen zu schützen, ohne sie komplett zu isolieren. Auch der Einsatz von Schnelltests kann helfen.
Wird auch die Zahl der Toten ansteigen?
Ja, das sehen wir bereits. Das kommt immer mit einem gewissen Zeitverzug. Auch die Zahl der Intensivpatienten nimmt wieder zu. Aber zum Glück haben wir noch nicht so viele Todesopfer wie im Frühjahr. Das hat mehrere Ursachen. Die klinischen Verläufe sind oftmals nicht mehr so schwer, der Anteil jüngerer Patienten ist höher. Auch haben wir heute deutlich bessere Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente. Zudem gibt es Hinweise aus der Forschung, nachdem sich das Virus zurzeit genetisch verändern könnte: Es verbreitet sich dann zwar effektiver, verursacht aber zugleich weniger schwere Krankheitsverläufe.
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Was kann die Bevölkerung zur Eindämmung der Pandemie beitragen?
Vor allem, sich im privaten Umfeld an die Regeln zu halten. Große Feiern und Menschenansammlungen sollten vermieden oder abgesagt werden. Der Mund-Nasen-Schutz sollte konsequent getragen werden, auch bei einem Treffen in kleineren Gruppen. Man kann sich auch mit einer Maske unterhalten. Das verhindert die Ausbreitung sehr effektiv.
Im Frühjahr hatten wir die Hoffnung, dass der Sommer die Ausbreitung des Virus bremsen könnte. Nun steht der Winter bevor – wird die Situation jetzt noch schlimmer?
Wenn sich die Menschen wieder mehr in den Räumen aufhalten, befördert das die Verbreitung des Virus. Zudem ist eine Außentemperatur von etwa zehn Grad optimal für das Virus. Daher hat es sich auch in den gekühlten Schlachthöfen so massiv verbreitet. Im Oktober hatten wir bereits viele Tage kühles und feuchtes Wetter, das hat die Verbreitung befördert und wird wohl bis Februar so bleiben. Wir können also nicht darauf hoffen, dass äußere Umstände uns in den nächsten Monaten helfen werden. Wir müssen uns schon selbst helfen.
Wann erwarten Sie einen Impfstoff?
Wir hoffen, dass Anfang des nächsten Jahres einen Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Ich bin relativ zuversichtlich, denn es gibt entsprechende Signale und Hinweise verschiedener Produzenten. Der Impfstoff wird zwar nicht sofort für die gesamte Bevölkerung zu Verfügung stehen, aber zumindest für einige Risikogruppen.
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