Bonn. Die Welt steuert auf die Selbstzerstörung zu. Die Corona-Pandemie bietet nun die Chance für einen Neuanfang, sagt der Philosoph Markus Gabriel.
Ein Zurück in die Zeit vor der Corona-Pandemie kann es nicht geben, die Welt muss eine andere werden als die, die wir kannten, sagt der Philosoph Markus Gabriel. Die Krise sei ein Weckruf und eine einmalige Chance für einen Neuanfang. „Wir müssen den Burn-Out-Kapitalismus überwinden“, fordert Gabriel, denn dieser führe unweigerlich in die Selbstzerstörung der Menschheit. „Wir stehen am Vortag einer weltweiten Revolution“, glaubt Gabriel. Christopher Onkelbach fragte den Bonner Professor, was das für unsere Zukunft bedeutet.
Sie sagen, die Corona-Pandemie müsse der Startschuss sein, unsere Leben vollständig umzustellen, was meinen Sie damit?
Markus Gabriel: Wir leben in einer neoliberal organisierten Gesellschaft, ich nenne das Burn-Out-Kapitalismus. Jeder kennt das aus seinem Alltag. Man überarbeitet sich, das Tempo nimmt zu und man weiß buchstäblich gar nicht mehr, wo einem der Sinn steht, weil alles so schnell geworden ist. Das ist kein akzeptables Leben. Und es ist moralisch verwerflich.
Was hat das mit Moral zu tun?
Es ist deshalb moralisch verwerflich, weil wir uns bewusst machen müssen, dass für diese Art des Konsumverhaltens am anderen Ende der Produktions- und Lieferketten Menschen teilweise sogar zu Tode kommen oder jedenfalls schreckliches Leid erfahren -- denken Sie an die Textilfabriken in Bangladesch oder Pakistan. Zugespitzt: Unsere Konsumverhalten läuft auf Dauer auf die Selbstausrottung der Menschheit durch die Klimakatastrophe hinaus. Das ist moralisch verwerflich, weil es ein vollständig fremd- und selbstzerstörerisches Verhalten ist. Wir reden von Überbevölkerung, Digitalisierung, Globalisierung, Flugverkehr, Lohndumping, Lohnsklaverei in Asien und so weiter. Ein so zerstörerisches System hat der Planet noch nicht erlebt.
Und Corona hat dieses System nun infrage gestellt?
Ja, das ist jetzt zusammengebrochen durch die für uns alle spürbare virale Pandemie. Es ist ja nicht die erste. Wir sind mitten in der HIV-Pandemie mit bislang mehr als 38 Millionen Toten, wir sind in einer Rotaviren- und anderen Pandemien. Diese viralen Bedrohungen werden durch den Raubbau an der Natur immer mehr zunehmen, wenn wir so weiter machen. Deswegen sage ich: Dieses neue Coronavirus ist ein Warnschuss der Natur. In der Situation brauchen wir die Philosophie als die strengste Überblickswissenschaft, um jetzt den großen Neustart der Gesellschaft anzustoßen. Und dafür habe ich jüngst Entwürfe vorgelegt.
Die Menschen empfinden die Pandemie als Katastrophe, Sie sagen, sie sei ein Weckruf. Wie kann man das verstehen?
Wir sind durch die Pandemie auf uns selbst zurückgeworfen worden, weil jeder kleine Schritt, den wir tun -- wie nahe darf ich Menschen kommen, wo und wie kann ich Urlaub machen, kann ich mein Kind in die Kita bringen oder meine Großeltern besuchen? – schwierig geworden ist. Unsere Mikroentscheidungen sind uns jetzt auffällig geworden, denn jeder Schritt bringt uns in ein Risiko-Szenario. Dadurch sind wir aufmerksam geworden für das, was wir tun. Das meine ich mit Weckruf. Das löst bei jedem von uns einen Bewusstseinswandel aus. Wir hören in der Pandemie alle denselben Ruf des Gewissens. Die Natur schreit uns sozusagen an -- und diesmal können wir gar nicht anders als zuzuhören.
„Wir befinden uns in der größten Revolution aller Zeiten“
Was können wir daraus lernen?
Wir stehen dadurch vor einer Situation, die uns moralisch besser machen kann. Die Frage ist nur, welche Zukunft entwerfen wir, welche Art von Gesellschaft wollen wir? Wir werden entweder den Pegel des Bösen weiter erhöhen auf diesem Planeten, oder wir werden es schaffen, den Pegel des Guten nach oben zu ziehen. Wie es ausgeht, ist noch völlig offen.
Was macht Sie zuversichtlich, dass das Gute am Ende die Oberhand gewinnt?
Ich sag‘s in aller Härte: Entweder sind am Ende alle tot oder das Gute gewinnt. Denn es steht ja das Überleben der Menschheit und das, was wir Zivilisation nennen auf dem Spiel. Das sind die Kategorien, in denen wir denken müssen angesichts der Überforderung unseres Planeten. Wir selbst sind derzeit die gefährlichste Krankheit für den Fortbestand der Menschheit. Ich bin aber deshalb so zuversichtlich, weil das Gute, das moralisch Richtige auch automatisch das ist, was uns allen am meisten nützt. Wir haben die Wahl zwischen Selbstzerstörung durch unsere Lebensform und einer neuen Moral. Und warum sollte ausgerechnet das Gute in Konflikt stehen mit dem, was wir wollen? Das ist ein falscher Gedanke. Und wenn wir uns dafür entscheiden, wird die Zerstörung aufhören. Wenn man jetzt die Tatsachen zur Kenntnis nimmt, dann besteht Aussicht auf Rettung. Und das liegt in der Demokratie allein in unserer Hand. Der Mensch ist frei.
Befinden wir uns also am Vortag einer großen Umwälzung?
Ja, wir sind mitten drin. Wir befinden uns in der größten Revolution aller Zeiten. Das ist die erste Revolution, die die gesamte Menschheit zeitgleich ergriffen hat. Es ist das erste Mal, dass die gesamte Menschheit dasselbe tut: die Pandemie bekämpfen. Das hat es so noch nie gegeben. Die Französische Revolution war hingegen nur ein europäisches Phänomen. Jetzt haben wir eine Umwälzung radikalster Art, die die gesamte global vernetzte Welt auf einmal erfasst. Diese entgrenzte Welt ist jetzt ins Wanken geraten. Und das betrifft uns alle.
„Eine Rückkehr zur Vor-Corona-Zeit ist eine Illusion“
Die meisten Menschen sehnen sich aber nach dem Vor-Corona-Zustand zurück. Geht das?
Das ist eine große und gefährliche Illusion. Wir können nicht zurück zu Vor-Corona-Zeiten, auch nicht wirtschaftlich. Diese Erkenntnis hat auch die weltweit führenden Unternehmen erfasst. Es wird in Zukunft sehr viel regionaler produziert wurden, bestimmte Systeme wurden teils verstaatlicht, etwa Fluggesellschaften. Schlüsselbranchen wie die Autoindustrie stellen sich anders auf. Die Zahl der Pleiten und Arbeitslosen wird steigen. Diese Prozesse lassen sich nicht rückgängig machen. Das, was wir kennen aus der Zeit vor der Pandemie, ist schlichtweg wirtschaftlich kaputt. Die alte Welt gibt es nicht mehr. Zugleich ist das Bewusstsein für Nachhaltigkeit gewachsen und darin liegt riesiges wirtschaftliches Potenzial.
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Auch bei der Digitalisierung müssen wir umsteuern, fordern Sie. Warum?
Während des Lockdowns haben die Menschen viel mehr Zeit mit digitalen Medien verbracht. Je mehr sie das tun, desto mehr leidet die liberale Demokratie, Verschwörungstheorien breiten sich aus. Dazu gehört die Einsicht, dass die sozialen Netzwerke und neuen Medien wesentlich, also nicht nur zufällig, darauf hinauslaufen, die demokratische Öffentlichkeit zu unterminieren. In den Echokammern von Facebook und Twitter herrscht der demokratische Rechtsstaat nur bedingt. Die Algorithmen scheren sich nicht darum, was das moralisch Gute sein sollte. Und die US-Konzerne streichen die Gewinne ein. Wir sollten daher in Europa einen eigenen digitalen Marktplatz schaffen, der öffentlich finanziert wird und Meinungsvielfalt garantiert.
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Was muss nun geschehen?
Je früher wir einsehen, dass eine Rückkehr eine Illusion ist, desto eher können wir eine bessere Welt entwerfen. Wir können ein besseres Leben haben. Wir können neue Jobs schaffen, indem wir regenerative Wirtschaftssysteme bauen, die dafür sorgen, dass wir unsere Natur schützen und wiederbeleben. Die Menschheit ist in der Krise. Wir müssen verstehen, dass wir uns von der bisherigen Welt verabschieden müssen.
„Dankbarkeit könnte eine Grundtugend sein“
Sie fordern eine „neue Moral“, derzeit aber ist eher von Einschränkungen der Freiheitsrechte die Rede, Menschen protestieren gegen die Corona-Maßnahmen...
Das ist richtig. Die Mehrheit aber verhält sich einsichtig. Sie tragen Masken und halten Abstand, um das Infektionsgeschehen im Griff zu halten. Ich nehme die Bürger insgesamt als sehr vernünftig wahr. Doch die Menschen, die wir als systemrelevant bezeichnet haben, denen wir applaudiert haben, müssen sich jetzt organisieren und auf die Straße gehen. Der Applaus war moralisch fragwürdig. Wir müssen auch unser Gesundheitssystem so umstrukturieren, dass der neoliberale Gedanke einer ökonomisch effizienten Gesundheitsversorgung ersetzt wird durch ein gerechteres System. Es gibt viele extrem engagierte Menschen, die ihr Leben anderen widmen. Sie brauchen eine bessere Anerkennung. Aber dafür müssen sie auch kämpfen. Für die große Transformation brauchen wir auch den „kleinen Mann“, die „kleine Frau“, die auf die Straße gehen. Veränderungen passieren in einer Demokratie nicht alleine von oben.
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Wir sind noch mitten in der Pandemie, sagen Sie. Also muss der Umbau möglichst rasch erfolgen?
Ja, die Transformation muss schnell passieren. Jede Minute, in der wir nicht darüber nachdenken, ist verschwendet. Ich kann als Philosoph nichts allein bewirken, alle müssen etwas tun, dazu möchte ich einladen. Zuerst haben wir auf die Virologen gehört, jetzt müssen wir die Philosophen anhören. Wir sind darin geübt, rationale Argumente auszutauschen, bis wir gemeinsam herausgefunden haben, was wir tun sollen.
Wie stellen Sie sich die Welt nach der großen Transformation vor?
Wir haben durch Corona gelernt, dass es ein gemeinsames Band gibt. Das macht uns freundlicher, mitfühlender und nachhaltiger. In meiner Welt machen wir regional Urlaub, der Flugverkehr ist reduziert. Wir werden anders arbeiten, naturverbundener und langsamer leben. Wir werden dankbar sein, nicht erkrankt zu sein und überlebt zu haben. Wir werden dankbar sein für den Sozialstaat, für Schulen, Kitas, Krankenhäuser und für hilfreiche Nachbarn. Dankbarkeit könnte überhaupt die Grundtugend sein eines demokratischen Gemeinwesens.
>>>> Zur Person:
Markus Gabriel lehrt seit 2009 an der Universität Bonn. Er ist Leiter des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie , Philosophie der Neuzeit und Gegenwart und des Internationalen Zentrums für Philosophie. Der 40-Jährige gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Denker der Gegenwart.
Aufsehen erregte er mit seinen Büchern „Der Sinn des Denkens“ (2018) und „Fiktionen“ (2020). Gerade erschien sein neues Werk „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten – Universale Werte für das 21. Jahrhundert“, in dem er angesichts der Corona-Krise seine Thesen zu einer „neuen Moral“ und einer „neuen Aufklärung“ ausführt.