Essen. NRW holt auf bei der Digitalisierung der Bildung. Doch mit Laptops für alle ist es nicht getan, sagt Expertin Birgit Eickelmann im Gespräch.
Seit Jahren wird von Pädagogen und Bildungsforschern der Rückstand in der digitalen Bildung in Deutschland beklagt. Während der Schulschließungen in der Corona-Pandemie wurden wie unter einem Brennglas die Probleme an den Schulen deutlich. Es fehlte an Konzepten, Geräten und den nötigen Fähigkeiten, digital zu lernen und zu unterrichten. Christopher Onkelbach sprach mit Prof. Birgit Eickelmann über die größten Probleme und Herausforderungen bei der digitalen Bildung. Die Erziehungswissenschaftlerin der Uni Paderborn ist Expertin für digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung. Sie sagt: Nun ist vieles in Bewegung gekommen.
Prof. Eickelmann, wie werden angehende Lehrer auf digitalen Unterricht vorbereitet?
Birgit Eickelmann: Da hat sich in letzter Zeit tatsächlich viel getan. 2016 hat die Kultusministerkonferenz in ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ festgelegt, dass alle Bundesländer ihre Lehreraus- und fortbildung den neuen, digitalen Anforderungen anpassen müssen. Wir an den Universitäten verstärken unsere Angebote und ändern – nicht zuletzt durch die Corona-Situation – unsere Lehrkräfteausbildung. Und auch der Vorbereitungsdienst, das Referendariat also, hat sich deutlich verändert. Alle angehenden Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen müssen als Teil ihrer Prüfungsleistung jetzt auch digital gestützten Unterricht vorzeigen.
Ein Großteil der Lehrerausbildung findet aber in den Schulen statt…
Ja, und die sind nach wie vor in Nordrhein-Westfalen sehr unterschiedlich digital aufgestellt. Seit 2019 gibt es bundesweit neue Standards für die Lehrerbildung, die NRW in einem Orientierungsrahmen „Lehrkräfte in der digitalen Welt“ aufgegriffen hat. Hier steht genau drin, was Lehrkräfte können müssen und welche Anforderungen sich daraus für die Lehrerausbildung ergeben. Auch der pandemiebedingte Distanzunterricht ist im letzten Schuljahr unmittelbar in der Lehrerausbildung aufgegriffen worden, da ging ja auch kein Weg daran vorbei. Hilfreich ist hier die Handreichung zum Distanzunterricht, die das Schulministerium im Frühsommer sehr schnell auf den Weg gebracht hat.
Bleibt die Umsetzung in der Praxis immer noch dem persönlichen Engagement der Lehrkraft vorbehalten?
Das typische Bild in Deutschland und auch in NRW war jahrelang, dass sich einige Schulen und einige Lehrkräfte beim digital gestützten Lernen engagiert haben und andere das Thema ausgesessen haben. Da ist im Moment viel in Bewegung, zum Beispiel bekommen jetzt alle Lehrkräfte in NRW ein digitales Endgerät. Auch gibt es seit Sommer für alle Schulen in NRW endlich ein Lernmanagementsystem und seit Anfang des Schuljahres einen datenschutzkonformen Messenger.
Werden auch die Lehrpläne angepasst?
Für das Gymnasium sind die Lehrpläne in NRW schon aktualisiert worden. Für die anderen Schulformen steht das noch an. So gibt es zum Beginn des nächsten Schuljahres neue Grundschullehrpläne. All diese Maßnahmen führen hoffentlich dazu, dass die Frage, ob wirklich alle Kinder und Jugendlichen von kompetenten Lehrkräften unterstützt werden, nicht mehr von dem persönlichen Engagement Einzelner abhängt.
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Werden die Pädagogen regelmäßig fortgebildet?
Schaut man sich die Länder an, die bei der Digitalisierung besonders erfolgreich sind, dann sieht man schnell, dass sich dort Lehrkräfte kontinuierlich fortbilden. Aber gerade im Kontext der Digitalisierung muss sich die Lehrerfortbildungen ändern. Wir brauchen andere Formate, zum Beispiel Online-Seminare. Fast wichtiger ist, dass sich Lehrerkollegien selbst fortbilden. Gegenseitige Unterrichtsbesuche im digital gestützten Unterricht, gemeinsame Vorbereitung von Unterricht im Team, um digitale Möglichkeiten ausloten zu können.
Sollte Lehrerfortbildung verpflichtend werden?
Das kann ich klar mit ja antworten. Dann muss dies aber auch in den Arbeitszeitmodellen Berücksichtigung finden. Das hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Man bekommt eben aus einem System nur das heraus, was man auch reinsteckt.
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Nun sollen alle Lehrer und bedürftige Schüler digitale Endgeräte erhalten. Ist das ein ausreichender Schritt zur Digitalisierung?
NRW ist das erste Bundesland, das allen Lehrkräften ein digitales Endgerät zur Verfügung stellt. In der freien Wirtschaft würde man sich fragen: Wie, das ist noch nicht geschehen? Daher war es wichtig, diesen Schritt zu gehen. Und nun kann sich keine Lehrkraft mehr herausziehen und sagen, dass sie an den Entwicklungen nicht teilnimmt, weil die Ausstattung fehlt. Gleichwohl wissen wir aus der Forschung, dass eine IT-Ausstattung nicht automatisch zu nachhaltigen Veränderungen führt. Fortbildung ist da ebenso notwendig.
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Und was ist mit der Ausstattung der Schüler?
Das ist für Deutschland fast schon peinlich. Wenn die Kinder und Jugendlichen kein digitales Lerngerät haben, können sie nicht an den Entwicklungen teilhaben und wir verwehren ihnen Lebenschancen. In anderen Ländern wie zum Beispiel Dänemark haben alle Schülerinnen und Schüler ein digitales Endgerät und es gibt auch digitale Lernmaterialien und Infrastrukturen, zum Beispiel zum Zusammenarbeiten. Die Aufstockung des Digital-Paktes um Gelder für digitale Endgeräte war daher wichtig. Was übrigens kaum bedacht wurde: Geräte alleine reichen nicht. Die Schüler brauchen auch WLAN oder Datenvolumen.
Was fehlt derzeit für einen gelingenden Distanzunterricht, wo brennt es besonders?
Naja, zunächst fehlte die Vorbereitung. Im Frühjahr wurden wir alle von der Pandemie und den Schulschließungen überrumpelt. Unsere Studie „Schule auf Distanz“ hat gezeigt, dass nur ein Drittel der Lehrkräfte in Deutschland über ihre Schule sagen konnten, dass sie digital gut auf den Distanzunterricht vorbereitet war. Im neuen Schuljahr ist mehr zu erwarten. Die Schulen müssen sich auf eine Kombination aus Präsenz- und Distanzunterricht vorbereiten. Besonders wichtig im Distanzunterricht ist, dass die Schülerinnen und Schüler in Kontakt bleiben, Rückmeldungen bekommen und dass Aufgaben gut gestellt werden.
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Wie steht es eigentlich um die digitalen Fähigkeiten der Schüler?
Das wird oft falsch eingeschätzt. Wir denken bei Kindern und Jugendlichen sofort daran, dass diese ja mit digitalen Medien aufwachsen. Aber das macht sie nicht kompetent. Mit der ICILS-2018-Studie konnten wir zeigen, dass ein Großteil der Jugendlichen eigentlich nur klicken und wischen kann. An den nicht-gymnasialen Schulformen in NRW sind es sogar mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, die allenfalls über sehr rudimentäre Kenntnisse im Umgang mit digitalen Medien und Informationen verfügen. Digitales Lernen funktioniert ja nur, wenn die Schülerinnen und Schüler über die entsprechenden Kompetenzen verfügen. Dort müssen wir im neuen Schuljahr dringend ansetzen, sonst fallen auch in Zukunft Schülerinnen und Schüler hinten runter.
Wie kommen Schüler damit klar, dass von ihnen mehr Eigenmotivation und Selbstständigkeit verlangt wird?
Da muss man ganz klar sagen, dass Schülerinnen und Schüler für selbstverantwortliches Lernen entsprechende Kompetenzen benötigen. Das Gute: das kann man lernen. Der Nachteil: Wir haben in den letzten Jahren darauf nicht genügend Wert gelegt. Aber die Studie des Deutschen Schulportals hat kürzlich gezeigt, dass viele Lehrkräfte in Zukunft auf die Förderung von Lernkompetenzen größeren Wert legen wollen. Wenn es uns gelingt Digitales besser einzubinden, Bildungsungleichheiten nicht mehr aus den Augen zu verlieren und die Eigenverantwortung der Kinder und Jugendlichen besser zu fördern, gehen wir mit neuen, zukunftweisenden Perspektiven in die nächsten Monate der Pandemie – und auch in die Zeit danach.