Düsseldorf. Im einstigen Stammland NRW liegt die Partei nur noch knapp vor den Grünen. Das liegt unter anderem daran, dass sie keine Arbeiterpartei mehr ist.

Umfragen zufolge hätte es für die SPD noch schlimmer kommen können, aber der Abwärtstrend in ihrem einstigen Stammland hielt bei der Kommunalwahl 2020 weiter an. Die Partei landet NRW-weit deutlich unter ihrem Ergebnis von 2014, muss in ihrer früheren „Herzkammer“ in die Oberbürgermeister-Stichwahl und ist in der größten NRW-Stadt Köln inzwischen chancenlos.

Wann war die SPD erfolgreich?

Im Ruhrgebiet noch bis weit in die 1990-er Jahre hinein. Bei den Ratswahlen in Essen erreichte die Partei 1994 fast 50 Prozent. Mitte der 1960-er Jahre schaffte die SPD in Dortmund den Sprung über 60 Prozent, und noch 1994 waren es mehr als 50 Prozent der Stimmen. Die SPD in Gelsenkirchen freute sich noch 2014 über 50 Prozent bei der Ratswahl und Oberbürgermeister Frank Baranowski über 67,4 Prozent im ersten Wahlgang. Inzwischen gelten Ergebnisse um 30 Prozent für die SPD sogar im Revier schon als gut.

Was führte zum Absturz?

Der Verlust der Arbeitermilieus spielt eine große Rolle. Einst war es für viele Beschäftigte fast selbstverständlich, in der SPD zu sein, sich in Gewerkschaft und Betriebsrat zu engagieren. Aber diese Milieus existieren nicht mehr, die Treue zur SPD nimmt ab.

Ist die SPD noch eine Arbeiterpartei?

Politikwissenschaftler Prof. Norbert Kersting (Uni Münster) beschreibt einen Spagat: „Die SPD kämpft mit dem Problem, einerseits eine Arbeiterpartei, andererseits eine Akademikerpartei zu sein.“ Dies spiegele sich in den Räten. Einige SPD-Ratsvertreter fühlten sich noch der alten Arbeiter-SPD verbunden und könnten mit modernen Themen wie Ökologie wenig anfangen. „In den Räten sitzen viele dieser altgedienten SPD-Politiker. Jüngere haben es recht schwer, sich durchzusetzen.“

Wie dicht ist die SPD an den Bürgern?

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Der typische Ratsvertreter – über die Parteien hinweg – ist männlich, hat studiert und ist Angestellter, haben die Forscher aus Münster herausgefunden. Heißt mit Blick auf die SPD: Sie ist personell auf Distanz zu normalen Arbeitnehmern wie Pflegern, Erzieherinnen und Paketboten, für die sie gern Politik machen möchte.

Wissen die Wähler, was die SPD will?

Das weiß die SPD oftmals selbst nicht. In der Analyse der Uni Münster zu den Einstellungen der Ratsvertreter fällt auf, dass SPD-Politiker tendenziell unentschlossener sind als die von CDU, FDP, Grünen und Linken. Zum Beispiel sagt bei der Frage, ob mehr Videoüberwachung gut wäre, etwa die Hälfte der SPD-Politiker Ja, die andere Nein. Ähnlich gespalten sind die Meinungen zu kostenlosem Nahverkehr. Die SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans wurden aus Protest gegen den GroKo-Kurs der SPD gewählt. Nun aber machten die beiden ausgerechnet den GroKo-Befürworter Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten.

Welche Rolle spielt Führungsstreit?

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Der Umgang der SPD mit ihrer früheren Bundesvorsitzenden Andrea Nahles dürfte Wähler irritiert haben. In NRW gibt es zudem einen ungeklärten Machtkampf zwischen SPD-Landtagsfraktionschef Thomas Kutschaty und NRW-SPD-Chef Sebastian Hartmann. Dieser Konflikt dürfte nach der Wahl offen ausbrechen. In Essen trugen Streitigkeiten innerhalb der SPD zu ihrem Niedergang bei.

Ist Schröder schuld?

Die Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder waren ein Tabubruch für viele SPD-Anhänger. „Viele haben uns das bis heute nicht verziehen“, sagt der Wattenscheider Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel. Arbeitnehmer, die lange in die Sozialversicherung eingezahlt haben, fürchteten auf einmal, nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit ins soziale Loch zu fallen.

Warum sieht die SPD alt aus?

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Politologe Kersting erklärt: „Die alten Großparteien SPD und CDU tun sich schwer damit, die junge Generation zu erreichen.“ Die Bereitschaft Jüngerer, sich in einer Partei zu engagieren, nehme grundsätzlich ab. Sogar die Urabstimmungen über Koalitionsverträge oder über Spitzenpersonal, die die SPD zuletzt ihren Mitgliedern ermöglichte, ändere kaum etwas an diesem Generationenproblem.

Leidet die SPD in der Coronakrise besonders?

Sie leidet in NRW, weil in der Krise viele Bürger auf die Regierenden schauen. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) steht ständig vor Kameras. Oppositionsführer Thomas Kutschaty muss kämpfen, um wahrgenommen zu werden. Aber in den Städten sieht das anders aus. Hier können SPD-Bürgermeister als Krisenmanager punkten.

Ist der Abwärtstrend in Stein gemeißelt?

Die SPD hat Aussichten, wieder in die Erfolgsspur kommen. „Ihre Kernthemen soziale Gerechtigkeit und staatliche Daseinsvorsorge könnten bald wieder wichtiger werden“, sagt Kersting. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auseinander, und die Coronakrise dürfte viele Menschen weiter verunsichern.

Warum sind die Grünen so stark?

Sie haben es derzeit leichter, Wähler zu mobilisieren, als SPD und CDU. „Neue Themen wie Klimaschutz und Protestbewegungen wie ,Fridays for future' wirken in fast alle Parteien hinein. Aber SPD und CDU machen da oft nur halbherzig mit“, erklärt Kersting. „Die Grünen besetzen Themen, die viele Bürger, vor allem in Großstädten, umtreiben. Zum Beispiel autofreie Zonen, Verkehr allgemein, Umwelt und Wohnen.“

Ist die CDU der große Wahlsieger?

Armin Laschet sieht es so: „Wir können heute sagen: Die CDU hat diese Wahl gewonnen“, rief er in die Mikrofone. Diese zentrale Botschaft gehörte zu den wenigen echten Gewissheiten an diesem Abend. Die CDU behauptete mit rund 36 Prozent ihre Position als stärkste kommunalpolitische Kraft und festigte sich auf ordentlichem Niveau. Die souveräne Wiederwahl von Oberbürgermeister Thomas Kufen in Essen und das Erreichen der Stichwahl von Stephan Keller in der Landeshauptstadt Düsseldorf und von Andreas Hollstein in Dortmund ließen manchen bei der Union sogar glauben, man sei das berühmte „Großstadt-Problem“ ein für allemal los.

Also ist die CDU nun auch Großstadtpartei?

Bei Lichte betrachtet dominiert die Laschet-CDU vor allem ihre Hochburgen im Münsterland, am Niederrhein und im Sauerland. Die wahren Gewinner der Metropolen sind die Grünen, die das beste Kommunalwahl-Ergebnis ihrer Geschichte einfuhren. In NRWs einziger Millionenstadt Köln ist die Öko-Partei inzwischen sogar stärkste politische Kraft. Ob Münster, Bonn oder Laschets Heimat Aachen – die Grünen holten vor allem in den boomenden Uni-Städten starke Ergebnisse. In Wuppertal und Aachen könnten sie demnächst sogar erstmals die Großstadt-Chefs stellen.