Essen/Köln. Ethikerin Prof. Christiane Woopen plädiert für einen schrittweisen Ausstieg aus den Corona-Maßnahmen und warnt vor einem Generationenkonflikt.

In der Diskussion um einen möglichst raschen Ausstieg aus den Corona-Maßnahmen dürften Menschenleben nicht gegen die Wirtschaft abgewogen werden, sagt die Ethikerin Prof. Christiane Woopen. Die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates warnt davor, mit schnellen Lösungen einen Generationenkonflikt zu befeuern und schlägt schrittweise Lockerungen der Kontaktbeschränkungen auf der Basis von vier klar definierten Kriterien vor. Die Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln berät als Mitglied des „Corona-Expertenrats“ die NRW-Landesregierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).

Frau Woopen, verfolgen Sie täglich die steigende Zahl der Infizierten?

Christiane Woopen: Zu Beginn habe ich sehr viel auf diese Zahlen geschaut, aber jetzt mache ich das nicht mehr so häufig, denn die Daten sind in ihrer Aussagekraft mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Ohne die Anzahl an Tests sagt die Zahl der Infizierten wenig. Auch die Zahl der Toten ist statistisch nicht eindeutig zu interpretieren.

Wie meinen Sie das?

Die Frage ist doch, wie viele Menschen sterben an Corona und wie viele sterben mit Corona. Wir brauchen eine bessere Vergleichbarkeit der Zahlen. Wenn wir an einem Tag feststellen, dass es rund 1500 Todesfälle aufgrund von Corona gab, dann wissen wir daraus nicht, wie viele Menschen ohnehin gestorben wären. Nur dann würde man sehen, in welcher Größenordnung die Zahl der Menschen, die durch das Virus ums Leben kommen, tatsächlich wächst.

Warum sind diese Zahlen so bedeutsam?

Ich will die Statistik interpretierbar machen. Zur Bewältigung von Unsicherheiten gehört es, dass man Zahlen einordnen kann. Das ist ein wesentlicher Faktor, um Vertrauen in die Entscheidungen der Politik zu befördern.

Christiane Woopen (57) ist Expertin auf dem Gebiet der Medizin- und Wissenschaftsethik.
Christiane Woopen (57) ist Expertin auf dem Gebiet der Medizin- und Wissenschaftsethik. © Kay Nietfeld/dpa

Die medizinischen sozialen und ökonomischen Kosten explodieren gerade. Kann das die Politik in Panik versetzen?

Politiker stehen zurzeit vor einer unfassbar komplexen Aufgabe. Panik nehme ich allerdings nicht wahr, sondern ein gründliches Abwägen. Glücklicherweise leben wir hier in einem gefestigten demokratischen System.

Der Druck aus Bevölkerung und Wirtschaft, die Pandemie-Maßnahmen bald zu lockern, wächst von Tag zu Tag. Wie muss sich Politik jetzt verhalten?

Wir haben mit einer Gruppe von 14 Experten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen den Vorschlag für eine risikoangemessene schrittweise Lockerung von Beschränkungen gemacht. Dabei orientieren wir uns an vier Kriterien. Erstens: Das Risiko einer Ansteckung mit Sars-CoV-2. Das heißt, Sektoren mit einer niedrigeren Ansteckungsgefahr, etwa hochautomatisierte Fabriken, können eher öffnen. Zweitens: Das Risiko einer schweren Erkrankung. Das heißt, dass Bereiche, in denen sich Gruppen mit einem geringeren Risiko bewegen, früher wieder öffnen können.

Wie lauten die beiden anderen Kriterien?

Die Bedeutung des Bereichs für Gesellschaft und Wirtschaft. Das meint zum Beispiel: Schulen haben eine höhere Relevanz als Nachtclubs. Man kann sie früher öffnen, wenn man etwa Abstandsregeln einhält, die Klassen im Wechsel belegt und Masken trägt. Geschäfte haben ebenfalls eine hohe Relevanz, weil Existenzen und Mitarbeiter daran hängen. Das vierte Kriterium ist die Umsetzbarkeit von Schutzmaßnahmen. Das heißt, man kann etwa Kinos, Konzertsäle, Theater mit begrenzter Zahl an Zuschauern, die einen Mundschutz tragen, schneller öffnen als unkontrollierbare Großveranstaltungen.

Wie wollen Sie diese Strategie bundesweit umsetzen?

Man kann das organisieren mit einer Corona-Taskforce. Sie sollte die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Risiken vor Ort beobachten. Wir brauchen in jedem Bundesland ein solches Gremium, wo täglich alle Beobachtungen zusammenfließen. So lässt eine kontinuierliche Risikobewertung vornehmen, um zu schauen, welche Maßnahmen in welchen Regionen für welche Bevölkerungsgruppen empfohlen werden. Die sollte zentral koordiniert werden.

Müssen wir den wirtschaftlichen Niedergang hinnehmen, um Leben zu retten?

Ich halte die Gegenüberstellung von Menschenleben und Wirtschaft für einen grundlegenden Fehler. Man kann nicht Menschenleben gegen Wirtschaft abwägen. Man muss das, was Menschen betrifft abwägen gegen das, was Menschen betrifft. Wir müssen sowohl den Unternehmen helfen wie auch schauen, was die wirtschaftliche Entwicklung mit den Menschen macht. Isolation kann zu Einsamkeit, Zukunftsangst, häusliche Gewalt und Suizidgedanken führen. Sozialarbeiter berichten von Kindern, die seit den Schulschließungen zu Hause Hunger haben. Mir ist es wichtig, dass wir nicht nur mit Wirtschaftsdaten argumentieren, sondern beachten, was die Situation mit den Menschen macht.

Der Ruf nach schnellen Lösungen wird lauter, zum Beispiel, nur die Alten und die Risikogruppen zu isolieren. Wäre das eine Strategie?

Junge und Alte gegeneinander zu stellen halte ich für falsch und schädlich, da es zu Diskriminierungen führen kann. Die älteren Menschen haben nicht aufgrund des Alters ein höheres Gesundheitsrisiko, sondern aufgrund der häufigeren Vorerkrankungen. Wir sollten dazu übergehen, von Menschen mit Vorerkrankungen oder mit einem höheren Risiko zu sprechen, damit wir nicht einen Generationenkonflikt befeuern.

Geht es denn nicht auch darum, ältere Menschen besser vor einer Infektion zu schützen?

Ich finde diese pauschale Schutzrhetorik gegenüber der älteren Bevölkerung problematisch. Ältere Menschen haben das Recht auf Selbstbestimmung wie alle anderen auch. Sie kollektiv als eine Gruppe darzustellen, die geschützt werden muss, halte ich für entmündigend.

Sie sind Mitglied im Corona-Expertenrat der Landesregierung. Was werden Sie Herrn Laschet raten?

Wir haben in dem zwölfköpfigen Gremium viele Ideen zusammengetragen, die in eine Strategie münden sollen. Es können etwa sektorenspezifische Regeln formuliert werden, zum Beispiel wie man jetzt schon in Geschäften das Ansteckungsrisiko mindern kann. Wichtig sind auch eine bessere Datengrundlage, eine breite Anwendung von Tests, eine ausreichende Versorgung mit Atemmasken und eine gute Kommunikation. Dann kann man bald schrittweise mehr Freiheiten zulassen.

>>>> Zur Person:

Christiane Woopen (57) ist eine international anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Medizin- und Wissenschaftsethik. Die Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität Köln ist zudem Geschäftsführerin des Forschungsinstituts „Ceres“ zu den Themen Ethik, Recht, Wirtschaft und Gesundheit.

Woopen war von 2012 bis 2016 Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, der die Europäische Kommission berät. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) berief die Wissenschaftlerin jetzt in den zwölfköpfigen „Corona-Expertenrat“ der Landesregierung.