Gelsenkirchen. Seit 16 Jahren ist Frank Baranowski OB von Gelsenkirchen. Jetzt tritt er nicht mehr an. Vieles habe sich in dieser Zeit verändert, sagt er.
Frank Baranowski bittet höflich in sein Büro in der fünften Etage im Gelsenkirchener Rathaus, besser bekannt als Hans-Sachs-Haus. Der Corona-Abstand wird eingehalten, natürlich. Die Maske darf aber ab. Baranowski ist kein Mensch, der sich gern versteckt. 16 Jahre ist der SPD-Politiker Oberbürgermeister seiner Stadt - und tritt überraschend nicht mehr zur Wahl an. Ein Gespräch über die Herausforderungen des Amtes, die Mühen der Kommunalpolitik und den Zustand unserer Debattenkultur.
Herr Baranowski, Sie sind 58 und ein über Gelsenkirchen hinaus geschätzter Oberbürgermeister und Kommunalpolitiker. Warum hören Sie auf?
Baranowski: 16 Jahre sind genug. Ich habe in der Politik viele erlebt, die den richtigen Termin zum Absprung verpasst haben. Soweit wollte ich es nie kommen lassen. Jetzt ist noch die Zeit, in der viele Menschen sagen: Schade, dass er geht. Wenigstens hoffe ich das. Aber wie das in fünf Jahren nach einer weiteren Amtszeit aussehen würde, weiß ich nicht. Und es ist für mich auch keine Option, das Amt etwa während einer laufenden Periode vorzeitig niederzulegen. Nein, der richtige Zeitpunkt ist jetzt.
Was werden Sie am meisten vermissen?
Die Vielfalt der Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen. Ich betrachte es als Privileg, dass man als Oberbürgermeister bei so vielen kleinen und großen Anlässen und Ereignissen dabei sein kann.
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Was sollte ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin an Eigenschaften für das Amt unbedingt mitbringen?
Ersten: Ein Oberbürgermeister muss die Menschen mögen, das ist eine Grundvoraussetzung für das Amt. Zweitens: Man braucht ein dickes Fell. Drittens: Man muss bereit sein, sich unbeliebt zu machen. Viertens: Man sollte delegieren können. Fünftens, und das wird immer wichtiger: Man braucht die Fähigkeit zu moderieren. Und natürlich sollte man die Stadt gut kennen.
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Sie blicken auf eine lange Amtszeit zurück. Als Sie 2004 erstmals gewählt wurden, spielten Internet und soziale Medien in der gesellschaftlichen Debatte höchsten eine untergeordnete Rolle. Wie hat sich das politische Klima seitdem verändert?
Mit dem Ruf der Politik stand es ja auch schon vor 16 Jahren nicht zum Besten. Das sollte man nicht vergessen. Heute aber ist das noch viel schlimmer geworden. Daran haben die sozialen Medien einen großen Anteil. Besonders dort hat sich Art und Tonalität der Debatten spürbar verändert. Der Umgangston ist rauer, mitunter brutal geworden. Die persönlichen Anfeindungen in manchen Posts sind schlimm. Meine Versuche, dagegen strafrechtlich vorzugehen, versanden in der Regel. Das alles geht nicht spurlos an einem vorbei.
Gab es Momente der Angst? Immerhin wurden Bürgermeister in jüngster Vergangenheit schon tätlich angegriffen.
Ich gestehe, ich schaue schon einmal genauer hin, wer da so um einen herumsteht. Die Arbeit des OB lebt aber von den direkten Kontakten. Man kann sich nicht im Rathaus verschanzen. Ich lebe in dieser Stadt, werde samstags beim Bäcker erkannt und angesprochen. Das ist mein Alltag.
Färbt die Beleidigungsunkultur im Netz auch auf den persönlichen Umgang ab?
Auch in der persönlichen Begegnung ist der Ton oft rauer. Das spürt man etwa in den Stadtratssitzungen. Die vergangene Ratsperiode war die erste in meiner Zeit als OB, in der ich von meinem Recht Gebrauch gemacht habe, Stadtverordnete des Saales zu verweisen.
Kommunalpolitik schreckt viele Menschen ab. Das liegt auch an teils endlosen Ratsdebatten. Wie erleben Sie das?
Ratssitzungen dauern deutlich länger als früher, nicht selten bis in den späten Abend hinein. Das ist eine Folge der zersplitterten Parteienlandschaft in den Räten, weil es für Kommunalparlamente ja keine Sperrklausel mehr gibt. Um das klar zu sagen: Ich habe nichts gegen eine breit aufgestellte politische Diskussionskultur, aber der Erkenntnisgewinn solch langer Ratsdebatten ist in der Regel gering.
Wie erleben Sie die Bürger in der Coronakrise?
Zu Beginn der Coronakrise gab es ja einen starken Zusammenhalt, eine große Bereitschaft, Rücksicht zu nehmen. Doch das hat inzwischen deutlich nachgelassen. Die Konfrontation zwischen denjenigen, die die Regeln einhalten und denjenigen, die das nicht tun oder die sie ignorieren, wird größer. Auch einen anderen Trend nehmen wir zurzeit wahr: Wir erhalten immer mehr Hinweis auf Corona-Regelverweigerer aus der Bevölkerung.
Städte sind die Orte, in denen die Folgen politischer Entscheidungen im fernen Berlin oder Brüssel für den Bürger unmittelbar spürbar werden. Haben die Kommunen genügend Einfluss auf die große Politik?
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Nach 25 Jahren mit politischem Mandat und Funktion frage ich mich schon, warum Kommunalpolitik mit bestimmten Themen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene einfach nicht durchdringt. Nehmen wir die Zuwanderung aus Südosteuropa. Ich sehe, wie diese Migration die Städte und die Stadtgesellschaften besonders im Ruhrgebiet verändert und das gesellschaftliche Klima teilweise vergiftet. Wir als Kommune können das Problem nicht lösen, denn es geht ja um eine Freizügigkeitsregel in Europa. Der Bund ist gefragt, doch dort werden die Probleme in den Kommune oft einfach nicht wahrgenommen. Ähnlich läuft das auch bei der Altschuldenfrage. Der Ball lag in den Corona-Verhandlungen der Bundesregierung bei dieser Frage auf dem Elfmeterpunkt, wurde aber wieder nicht verwandelt. Jetzt ist das Thema erstmal vom Tisch. Das ist frustrierend.
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Als Vorsitzender der Ruhr-SPD liegt Ihnen das ganze Ruhrgebiet am Herzen. Wo steht die Region in zehn Jahren?
Das Revier wird einen deutlichen Schub gemacht haben in Richtung neue Technologien, Wasserstoff und veränderte Mobilität. Und die Revierbürger werden dann noch weniger als heute schon an Stadtgrenzen Halt machen.
Das Ruhrgebiet wächst also weiter zusammen. Hat sich denn die Kooperationsbereitschaft der Kommunen in den vergangenen Jahren verbessert?
Ja, vor allem in Teilräumen des Reviers, also bei den unmittelbaren Nachbarstädten. Zwischen den Rändern des Reviers im Westen und im Osten gibt es aber weiter erkennbar unterschiedliche Interessen. Insgesamt aber kann man sagen: Hat man im Ruhrgebiet einmal einen Konsens gefunden, funktioniert es ganz gut.
Noch ein Wort zur Schlusslichtdebatte. Bei den so genannten Städterankings sehen Sie regelmäßig rot. Ruhrgebietsstädte, allen voran Gelsenkirchen, landen dort auf den hintersten Plätzen. Ist das gerecht?
Über solche Rankings ärgere ich mich maßlos. Vor allem, weil sie nichts bewirken. Wir haben uns den Strukturwandel nicht ausgesucht. Die Schulden haben wir nicht, weil wir etwa Geld verschwendet hätten, sondern weil bei uns besonders viel Menschen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. In den 30 Jahren, die ich in und für Gelsenkirchen Politik gemacht habe, habe ich nie erlebt, dass hier irgendwelche goldenen Türklinken verbaut wurden.
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Ihre Amtszeit endet offiziell am 31. Oktober. Und dann?
Am 1. November werde ich mir in Ruhe anschauen, wie das Leben ist, so ganz ohne Terminkalender. Es ist ja so: Seit 16 Jahren werde ich praktisch gelebt, ein Termin folgt dem nächsten. Als Oberbürgermeister hat man eine 7-Tage-Woche – aber kein Privatleben.
Es gibt keine Pläne?
Nichts Konkretes. Ich habe auch keinerlei Angebote, etwa anderes zu machen. Ich lasse das jetzt alles auf mich zukommen. Vielleicht ergibt sich ja im nächsten Jahr etwas. Auf jeden Fall werde ich im ehrenamtlichen Bereich aktiver werden.