Essen. Am 8. Juni öffnen Kitas mit reduzierten Zeiten für alle Kinder, die Notbetreuung wird eingestellt. Berufstätigen Eltern fehlen diese Stunden nun.

Desiree Lederer ist ratlos. Seit Tag eins nach Schließung der Kitas in NRW war ihre vierjährige Tochter in der Notbetreuung, 35 Stunden pro Woche. Als medizinische Fachangestellte an der Essener Uniklinik ist sie „systemrelevant“, hat also einen Anspruch darauf. Doch wenn die Kitas am 8. Juni wieder für alle Kinder öffnen, kann ihre Tochter nur noch 25 Stunden pro Woche betreut werden. Grund ist der „eingeschränkte Regelbetrieb“, in dem der Kita-Betrieb vor den Sommerferien anlaufen soll.

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Statt wie vor der Corona-Krise für entweder 45, 35 oder 25 Stunden werden Kinder bis zum 31. August nur für 35, 25 oder 15 Stunden betreut. Gleichzeitig wird die Notbetreuung, die Eltern in systemrelevanten Berufen für bis zu 45 Stunden zur Verfügung stand, eingestellt. NRW-Familienminister Joachim Stamp sagte, die „Bereitschaft zu Zugeständnissen“ sei von allen Seiten notwendig. Doch in vielen Fällen sind es genau diese nun fehlenden zehn Stunden pro Woche, die es Eltern ermöglichten, Beruf und Kinderbetreuung reibungslos unter einen Hut zu bringen.

Besonders Alleinerziehende wissen nicht, wie sie Beruf und Kinderbetreuung stemmen sollen

Vor allem für Alleinerziehende ist die Lage schwierig. Der NRW-Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) berichtet von Anrufen zahlreicher Eltern, die fürchten, die Betreuungslücke ohne Hilfe der Großeltern oder Entgegenkommen des Arbeitsgebers nicht schließen zu können. „Die Verzweiflung bei den Alleinerziehenden ist groß und viele fürchten um ihren Arbeitsplatz", so die Landesvorsitzende Nicola Stroop.

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Auch Desiree Lederer ist alleinerziehend. Sie arbeitet 27 Stunden pro Woche, hat zusätzlich eine Fahrtzeit von 45 Minuten zu ihrem Arbeitsplatz. 25 Betreuungsstunden reichen für sie nicht aus. Die 38-Jährige sieht sich deshalb gezwungen, die Kinderbetreuung privat zu organisieren.

Wahrscheinlich muss sie die Großeltern einspannen, doch das möchte sie eigentlich nicht. Sie gehören aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe. „Sehr befremdlich“, findet es Lederer, dass ausgerechnet nun, da der ambulante und stationäre Betrieb in den Krankenhäusern wieder hochgefahren wird, das medizinische Personal offenbar nicht mehr so unterstützenswert scheine.

Eltern aus systemrelevanten Berufsgruppen fühlen sich alleingelassen

Jetzt sind wir auf einmal nicht mehr wichtig - das ist der Eindruck, den einige Eltern aus systemrelevanten Berufsgruppen haben. „Erst hat man uns beklatscht, Bonuszahlungen gefordert und gesagt, wie sehr alle auf uns angewiesen sind. Jetzt heißt es einfach: Macht ihr mal“, sagt Julia S. (Name von der Redaktion geändert). Die 27-Jährige arbeitet als Altenpflegerin in einer Bochumer Seniorenresidenz und war für ihre sechsjährige Tochter bisher auf die Notbetreuung angewiesen. Ihr Mann arbeitet als Kfz-Mechatroniker, hat ebenfalls keine flexiblen Arbeitszeiten.

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„Wir sind mit der Betreuung komplett allein“, sagt Julia S. Die Großeltern wohnen nicht im Ruhrgebiet, auch sonst hat die Familie keine Unterstützung. Was bleibt: Sie hat in ihrem Beruf als Altenpflegerin ein Stundenkonto, bei dem sie bis zu 100 Stunden ins Minus gehen kann. Aber eigentlich sei das auch keine Lösung, sagt die 27-Jährige: „Ich weiß nicht, wie ich die ganzen Minusstunden anschließend aufarbeiten soll.“ Die Personaldecke in der Pflege sei ohnehin schon sehr dünn.

Der letzte Ausweg: Betreuung privat organisieren, notfalls mit vielen Betreuungspersonen

Enttäuscht von der Politik zeigt sich auch Dagny Holle-Lee. Die Neurologie-Professorin leitet das Westdeutsche Kopfschmerzzentrum an der Essener Uniklinik, hat dort einen durchgetakteten Alltag. Ihr fünfjähriger Sohn ging bisher 45 Stunden in die Notbetreuung. „Ich weiß nicht, wie ich es jetzt schaffen soll, ohne viele Leute in die Betreuung einzubinden“, sagt sie. Dabei sei das ja eigentlich genau das, was man vermeiden solle.

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Von Tim Braune, Kerstin Münstermann und Alessandro Peduto

Doch die 40-Jährige kann eben nicht von zu Hause aus die Klinikstationen und die Notaufnahme betreuen. Sie sieht deshalb keine andere Möglichkeit, als die Betreuung privat zu organisieren. „Natürlich könnte ich theoretisch meinen Resturlaub nehmen oder Überstunden abbauen“, sagt Holle-Lee. Aber wenn das alle täten, dann sei eben niemand mehr da, um die Patienten zu versorgen.

Meistens sind es die Frauen, die jetzt zurückstecken

Als problematischen Effekt der Krise wertet die Medizinerin auch das Zurückfallen in überwunden geglaubte Gender-Diskussionen: „Wenn man die Stundenzahl in den Kitas reduziert, geht man ja davon aus, dass die Betreuungsfrage irgendwie innerfamiliär geklärt wird. Meist stecken dann die Frauen zurück.“ Ihre Forderung an die Politik lautet daher klar, die Kitas für Eltern aus systemrelevanten Berufsgruppen wieder in erweitertem Umfang zu öffnen.

Einen kleinen Lichtblick gibt es aber jetzt schon: In Absprache mit den zuständigen Aufsichtsbehörden können einzelne Kitas auch ein höheres Stundenkontingent anbieten – allerdings nur, wenn sie sich aufgrund ihrer räumlichen und personellen Kapazitäten dazu in der Lage sehen. Gleichzeitig ist es in Ausnahmefällen auch möglich, stundentechnisch nach unten abzuweichen, wenn es die Personalsituation nicht anders zulässt.