Essen. Seit Mitte März stellen weniger Menschen in NRW einen Antrag auf Pflegebedürftigkeit. Der Sozialverband VdK warnt: Betroffene sind verunsichert.
Experten befürchten, dass Pflegebedürftige wegen der Corona-Pandemie Hilfen nicht in Anspruch nehmen, die ihnen zustehen. Seit Mitte März haben weniger Menschen einen Antrag auf Pflegebedürftigkeit gestellt als im Vorjahreszeitraum.
Seit dem Lockdown Mitte März sind allein im Bezirk Westfalen-Lippe über 5000 Pflege-Anträge weniger eingegangen. Besonders gravierend war das Minus mit 25 Prozent innerhalb einer Woche, nachdem das Robert-Koch-Institut am 26. März das Risiko für Vorerkrankte und Ältere auf "sehr hoch" gestuft hatte. Auch beim MDK Nordrhein heißt es, die Anträge seien Mitte März rückläufig gewesen. Aktuell habe sich die Lage wieder stabilisiert.
Übliche Hausbesuche finden wegen Infektionsschutz nicht statt
Als einen Grund für die rückläufigen Zahlen vermutetet der MDK fehlende Informationen: Statt der üblichen Hausbesuche findet die Pflegebegutachtung aus Gründen des Infektionsschutzes derzeit telefonisch statt. „Unsere Sorge ist, dass davon nicht genug Menschen wissen und aus Angst vor einer möglichen Infektion lieber gar nicht erst den Antrag stellen“, sagte ein Sprecher des MDK Westfalen-Lippe. Damit erhalten sie auch nicht die Leistungen, die ihnen im Falle eines anerkannten Pflegegrades zustehen.
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Horst Vöge, Vorsitzender des Sozialverbandes VdK in NRW, nennt einen anderen Grund für die wenigen Pflege-Anträge als Infektionsängste. "Es hat sich herumgesprochen, dass telefonische Begutachtungen eher zu einer Ablehnung führen als tatsächliche Besuche", sagte Vöge. Beim VdK meldeten sich seit März immer mehr Pflegebedürftige und in der Corona-Krise besonders belastete pflegende Angehörige, die gegen solche Bescheide Widerspruch einlegten. "Die Unsicherheiten sind eh schon sehr groß bei den Betroffenen", so Vöge. "Viele Ablehnungen sorgen für noch mehr Verunsicherung."
Der MDK Westfalen-Lippe widerspricht: Derzeit würde die Beurteilung "nicht pflegebedürftig" sogar eher seltener vergeben.
Prüferin: Isolation ist den Menschen anzumerken
Praktiker vor Ort nennen die Telefoninterviews als Alternative zu Hausbesuchen eine Notlösung, aber eine notwendige. "Um erfassen zu können, wie mobil und selbstständig jemand ist, müssen wir uns auf das verlassen, was uns die Betroffenen und ihre Familien sagen. Als erfahrene Pflegefachkräfte können wir anhand von Arzt- und Krankenhausberichten sowie weiterer Unterlagen überprüfen, wie plausibel die Angaben sind", sagt Ute Schrage, seit 25 Jahren pflegefachliche Gutachterin beim MDK Westfalen-Lippe. "Das ist aber immer noch besser, als gar nicht begutachten zu können und zu riskieren, dass Pflegebedürftige und Pflegepersonen keine Hilfe und Entlastung erfahren."
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Um Versicherten Orientierung zu geben, hat der MDK einen siebenseitigen Fragebogen erstellt. Gespräche dauerten trotz der Vorbereitung statt einer Stunde beim Hausbesuch inzwischen bis zu 90 Minuten am Telefon. Es gelte, Hürden etwa bei Fremdsprachigkeit oder Schwerhörigkeit des Versicherten zu überwinden, so Schrage. Zugleich sei der Redebedarf auf beiden Seiten groß: "Die Isolation macht sich bei vielen Senioren bemerkbar."
Neue Hotline für Fragen zur Pflegebegutachtung
Mittlerweile gehen die Zahlen der Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung wieder nach oben, so Schrage. Sie erwartet, dass die Aufträge in der zweiten Jahreshälfte "wieder sprunghaft ansteigen".
>> Der MDK Westfalen-Lippe schaltet am Dienstag, 26. Mai, eine neue Hotline für alle Fragen zur Pflegebegutachtung in Coronazeiten. Sie ist unter Telefon 0231/9069-212 von montags bis donnerstags von 8 bis 16.30 Uhr und freitags von 8 bis 15.30 Uhr zu erreichen.