Düsseldorf. NRW-Verkehrsminister Wüst gilt als möglicher Nachfolger von Ministerpräsident Laschet. Es wäre der logische Abschluss einer wundersamen Wandlung.
Wer Hendrik Wüst in seinem Büro im zehnten Stock des gläsernen Düsseldorfer „Stadttores“ besucht, trifft ihn in einem seltsamen Korridor zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
An der Wand lehnen aufgereiht einige blank polierte Spaten - Erinnerungen an die vielen Spatenstiche, die Wüst in seinen bald drei Jahren als nordrhein-westfälischer Verkehrsminister schon hinter sich gebracht hat. Über der Rückenlehne des Schreibtisch-Stuhls hängt ein Trikot des 1. FC Köln. „Tja, FC-Fan und Junge Union. Hatte halt ne schwere Kindheit“, scherzt der inzwischen 44-jährige CDU-Mann gern.
Hier oben in der Sitzgruppe hinter der raumhohen Glasfassade, mit diesem fantastischen Rheinblick, hat er vor mehr als zehn Jahren auch schon mal samstags sitzen müssen. Es war das Büro des damaligen Ministerpräsidenten und CDU-Landeschefs Jürgen Rüttgers, der weder sich noch seine Mitarbeiter schonte. Wüst war sein junger Generalsekretär. Jetzt ist es Wüsts Büro, weil Ministerpräsident Armin Laschet es vorzog, die Staatskanzlei einige Meter rheinaufwärts im historischen „Landeshaus“ einzurichten.
Der Hendrik Wüst von damals und der Hendrik Wüst von heute haben nur noch wenig miteinander gemein. So wenig, dass der Politiker aus dem münsterländischen Rhede inzwischen als heißester Anwärter auf die Nachfolge von Ministerpräsident Laschet gilt, sollte dieser im Herbst 2021 oder früher tatsächlich komplett nach Berlin wechseln. Wer in NRW im Laufe der Legislaturperiode Regierungschef werden will, braucht laut Verfassung ein Landtagsmandat. Wüst hat eins, außerdem das richtige Alter und Auftreten, den nötigen Machtinstinkt und die politische Erfahrung. Es wäre der logische Abschluss einer wundersamen Wandlung.
Eigentlich war seine politische Karriere schon vor zehn Jahren beendet
Eigentlich war Wüsts politische Karriere schon vor zehn Jahren zu Ende. Zweieinhalb Monate vor der Landtagswahl 2010 musste er als CDU-Generalsekretär zurücktreten. Er war das Gesicht der bundesweit beachteten „Sponsoren-Affäre“. Ein Werbebrief der NRW-CDU hatte Ministerpräsident Rüttgers in den Verdacht der Käuflichkeit gebracht. Der Partei-Manager sei „nur ein Bauernopfer“, sagte die SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft, die kurz darauf selbst in der Staatskanzlei einzog.
Wüst galt zu dieser Zeit auch in den eigenen Reihen als Krawallo. Dass er mal Kronprinz des Ministerpräsidenten werden könnte, erschien ausgeschlossen. Als CDU-Generalsekretär führte Wüst die Geschäftsstelle wie eine Kampagnen-Zentrale der Jungen Union. Aggressiver Ton, keine Gefangenen. Es gab Gerichtsstreitigkeiten mit langjährigen Parteimitarbeitern und eine unschöne „Kraftilanti“-Kampagne gegen Oppositionsführerin Kraft, die gezielt persönlich herabgewürdigt werden sollte. Zudem musste Wüst einräumen, zu hohen Krankenkassen-Zuschüsse kassiert zu haben. Selbst Granden der NRW-CDU mahnten einen anderen Stil an und waren sich einig, dass der passionierte Jäger Wüst „zu viele Böcke“ schieße.
Normalerweise ist man damit politisch erledigt. Ein für alle mal. Wüst jedoch begriff sein Scheitern als Chance. Die wenigsten hätten ihm das zugetraut. Wer ihn nach der Abwahl von Schwarz-Gelb im Sommer 2010 traf, erlebte einen überraschend selbstkritischen Mann. Er suchte die Schuld für den Absturz bei sich selbst, was in der Politik so gut wie nie vorkommt. Sonst sind es gern die unglücklichen Umstände oder „die Medien“.
Wüst nahm ein Angebot des Zeitungsverlegerverbandes an, dort als Geschäftsführer anzufangen. Nebenher behielt der Volljurist sein Landtagsmandat. Ganz lassen wollte er nicht von der Politik. Wie auch? Mit 15 gründete er die Junge Union in Rhede, mit 20 war er Stadtverordneter, mit 30 Landtagsabgeordneter, mit 31 Generalsekretär des größten CDU-Landesverbandes. Hört man da mit 35 auf?
Er ließ sich auf Laschet ein, der so ganz anders ist als er selbst
Es wurde ruhig um Wüst. Erst 2013 nahm man ihn wieder wahr, als er zum Landesvorsitzenden des CDU-Wirtschaftsflügels gewählt wurde. In der Landtagsfraktion wurde fortan registriert, wie geschickt er die notorische Wachstumsschwäche Nordrhein-Westfalens in die „Schlusslicht“-Erzählung von Oppositionsführer Armin Laschet über die rot-grüne Regierungsbilanz einpflegte.
Überhaupt Laschet. Dass der ihn wenige Jahre später zum Minister berufen würde, hätte kaum jemand für möglich gehalten. Wüst hatte in den Führungsstreitigkeiten der NRW-CDU zwischen 2010 und 2014 klar auf der Seite seines Münsterländer Bezirkschefs Karl-Josef Laumann gestanden und damit gegen Laschet. In der Flüchtlingskrise 2015 gehörte Wüst innerhalb der Landtagsfraktion zu den entschiedensten Gegnern des liberalen Kurses von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Laschet hingegen verteidigte die offenen Grenzen hingebungsvoll. Auch dessen spontaner, fröhlicher, oft rheinisch-bauchiger Führungsstil blieb dem mit Positionspapieren sozialisierten Konservativen Wüst lange ziemlich fremd.
Aber anders als in jüngeren Jahren ließ sich Wüst auf Laschet ein. Dessen Fähigkeit, Positionen und Menschen zusammenzuführen, ja, dieser gut gelaunten christlich-europäischen Werteorientierung kann er heute einiges abgewinnen. Führung muss nicht immer bedeuten: nach oben buckeln, nach unten treten und Prinzipien nach Bedarf zur Seite schieben. Viel früher als sein Vertrauter Jens Spahn wurde Wüst Teil des Systems Laschet. Als er 2019 seine Lebensgefährtin Katharina auf Schloss Raesfeld heiratete, ebenfalls eine Juristin, war der Ministerpräsident wie selbstverständlich unter den Gästen.
Die Bürgerzufriedenheit mit der Verkehrspolitik lässt noch zu wünschen übrig
NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff machte jüngst indirekt deutlich, dass er sich Wüst sehr gut als Nachfolger Laschets vorstellen könnte, sollte dieser in die Bundespolitik wechseln. Der Verkehrsminister sorge für hohe Investitionen in den Verkehrssektor, auch wenn er absehbar das Stau-Problem im Land nicht lösen könne. „Wüst zeigt, dass wir gute junge Politiker haben“, sagte Kirchhoff. Der Handwerkspräsident Andreas Ehlert hatte bereits von einem „Wüst-Effekt“ im Straßenbau gesprochen, der für übervolle Auftragsbücher sorge.
Die morgendlichen Pendler spüren freilich wenig von der Investitionsoffensive. Der ADAC misst sogar mehr Staus als vorher. Die Umfragewerte zur Bürgerzufriedenheit mit der schwarz-gelben Verkehrspolitik sind mäßig. Anders als Innenminister Herbert Reul (CDU) mit seinen öffentlichkeitswirksamen Razzien und markigen Worten gelingt es Wüst bislang nicht recht, zumindest symbolisch Tatkraft zu zeigen. Immerhin gilt er heute als der nette Minister mit der Justin-Trudeau-Frisur, der gern behelmt mit dem Fahrrad durch Düsseldorf kreuzt. Er verteilt jetzt regelmäßig Warnwesten an Schul- und Kita-Kinder. Nur noch selten eckt Wüst mit seinem eigenwilligen Humor an. Etwa, wenn er bei einer Vortragsveranstaltung im Stile eines zackigen Militärs nachahmt, wie ihm die Straßenarbeiter auf einer der vielen maroden Brücken Nordrhein-Westfalens zubrüllten: „Herr Minister, die Brücke wird gehalten.“
Sogar den Umgang mit Fehlern hat er gelernt - wie das Sozialticket zeigte
Sogar den Umgang mit Fehlern hat er gelernt. Als Ende 2017 das „Sozialticket“ für ärmere Menschen abgeschafft werden sollte, um mit dem eingesparten Geld lieber einige Straßenkilometer zu asphaltieren, nahm sich Wüst die Empörungswelle zu Herzen. Der Vorschlag wurde schnell zurückgezogen. Natürlich ist es auch der Mangel an Alternativen, der Wüst unverhofft in die Rolle des Laschet-Nachfolgers hievt. Sonst käme - mit dem erforderlichen Landtagsmandat ausgestattet - noch Finanzminister Lutz Lienenkämper (50) in Frage, der jedoch öffentlich kaum in Erscheinung tritt und wenig Lust auf die Spitzenkandidaten-Rolle 2022 verspüren soll. Möglicherweise könnte sich der Blick auch auf den knorrigen CDU-Fraktionschef Bodo Löttgen (60) richten, der aber eher im Maschinenraum der Macht zuhause wirkt und im Land ziemlich unbekannt ist.
Ist Hendrik Wüst also politisch auf die Überholspur gezogen? Er kokettiert meist mit westfälischer Genügsamkeit und sagt Sätze wie: „Wir Münsterländer fahren Fahrrad, weil wir zu faul zum Laufen und zu geizig zum Autofahren sind.“