Essen. Experte: Die Morde in Hanau reihen sich in eine Folge rechtsextremistischer Anschläge ein. Meist kündigten Attentäter die Tat vorher indirekt an.
Immer deutlicher schält sich ein rechtsextremistisches Motiv des mutmaßlichen Attentäters von Hanau heraus. Die Ermittler gehen in einer ersten Analyse von einer „zutiefst rassistischen Gesinnung“ aus. In einem Video und in einem Manifest äußerte der Todesschütze zudem paranoide und verschwörungstheoretische Ansichten. Die Radikalisierung eines Täters bis zu einer Gewalttat läuft unterschiedlich ab, sagt Nils Böckler, Extremismus- und Radikalisierungsforscher an der TU-Darmstadt. Dennoch ließen sich übergreifende Muster erkennen, sagt er im Interview mit Christopher Onkelbach.
Was kann man bisher über die Motive des Attentäters vermuten?
Nils Böckler: Nach allem was wir bisher wissen, reiht sich die Tat von Hanau in eine verdichtete Folge rechtsextremistischer Attentate ein. Tatort und Opferwahl deuten auf fremden- beziehungsweise islamfeindliche Motive hin. Derzeit beobachten wir, dass auch rechter Terror immer globaler denkt und die Taten in internationalen und virtuellen Netzwerken choreografiert werden.
Handelte es sich um einen Amoklauf oder eine geplante Tat?
Auch Amokläufe sind meistens gut geplant. Diese Taten müssen vorbereitet werden: Opfer werden ausgesucht, Waffen werden organisiert, es folgt eine Beobachtung des Tatorts.
War es die Tat eines extremen Einzeltäters oder war er vernetzt?
Wir beobachten derzeit eine Individualisierung des Terrors. Menschen ohne Einbindung in einer Szene wollen für ihre Tat das Label Terror beanspruchen, weil sie sich dann sicher sind, dass die Gesellschaft in einer bestimmten Art auf sie reagiert. Weder Amokläufer noch terroristische Einzeltäter sind jedoch in Zeiten des Internets sozial isoliert. Beide Tätergruppen sind in der Regel gut vernetzt und erfahren reichhaltige Verstärkung aus virtuellen Gruppen.
Wollte der Täter Ausländer einschüchtern, ein Signal setzen?
Terroristische Gewalt zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Botschaft vermitteln will. Es geht nicht nur um die unmittelbare Gewalttat, sondern darum, einer bestimmten Menschengruppe zu zeigen: Es kann euch jederzeit ebenso treffen.
Könnte die Tat Nachahmer provozieren?
Ja, es sollen Sympathisanten angesprochen und Nachahmer mobilisiert werden, um ein Klima der Angst zu schaffen. Wir sehen deutlich, dass auch allein handelnde Täter sich immer wieder mit anderen Attentätern beschäftigt haben. Somit gab es auch in München, Christchurch und Halle Bezugnahmen der Täter auf ihre Vorgänger. Wir müssen uns deshalb davor hüten, die Täter bekannt zu machen, weil wir damit eine attraktive Blaupause für Nachahmungstäter schaffen.
Wie kommt es zur Radikalisierung, welche Auslöser gibt es?
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Wir erkennen in der rückblickenden Analyse von Taten immer wieder bestimmte auslösende Momente. Generell wollen sich rechtsextremistische Täter als „Soldaten für den Volkswillen“ verstehen. Eine aufgeheizte und polarisierte gesellschaftliche Stimmung, in der Menschengruppen gegeneinander ausgespielt werden, bildet dafür oftmals den Nährboden. In vielen Fällen sehen wir, dass akute Momente hinzukommen: Der Täter sieht sich in einer persönlichen Sackgasse, wird von extremen Gruppierungen unter Druck gesetzt oder tritt mit der Tat die Flucht nach vorne an, wenn er sich verfolgt fühlt.
Lässt sich ein Muster der Radikalisierung erkennen?
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Was Hanau betrifft ist jetzt noch keine fundierte Analyse möglich. Generell lässt sich jedoch sagen, dass der Weg zu einem terroristischen Attentat immer das Resultat eines längeren Entwicklungsweges ist. In den Lebensläufen von Tätern sehen wir häufig, dass sie sich an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben nicht mehr als Teil der demokratischen Gesellschaft erleben. Das kann mit Frust und einem unbestimmten Wutgefühl einhergehen. Es sind dann extremistische Parolen, die zu dieser persönlichen Wut die Schuldigen präsentieren.
Was passiert dann?
Gewalt erscheint dann als legitime Verteidigungsstrategie gegen die Schuldigen. Derzeit sind Themen wie Islamisierung, Umvolkung, Überfremdung und kultureller Zerfall sehr präsent. Sie suggerieren Druck zum Handeln, um die Bedrohung abzuwehren. Wenn ich den anderen als Feind wahrnehme, fällt es mir leichter, Hemmschwellen der Gewalt zu überwinden.
Sind Täter, die wahllos Menschen erschießen, psychisch gestört?
essener muslime sind nach anschlag „enttäuscht und erbost“Aus der Praxis kennen wir einen kleinen Teil von Personen mit wahnhaften Erkrankungen, die ihr paranoides Denken mit Propaganda aufladen und aus vermeintlicher Notwehr handeln. Der überwiegende Anteil der Täter ist aus psychiatrischer Sicht nicht auffällig. Der Täter von Hanau scheint allerdings – nach allem was wir über seine Schriften und sein Video wissen – einer solchen Kategorie wahnhafter Täter zuzuordnen sein.
Kann man einen möglichen Attentäter führzeitig erkennen und stoppen?
Die Forschung zeigt, dass in knapp 80 Prozent der Fälle dem Umfeld vorher aufgefallen ist, dass sich ein späterer Täter auf dem Weg zur Gewalt befand: Seine Denkmuster und Äußerungen wurden immer radikaler, er verbrachte mehr Zeit in ideologischen Foren im Internet, identifizierte sich mit anderen Gewalttätern oder tönte in einigen Fällen sogar davon, einmal selbst eine Tat zu begehen. Das Umfeld muss sensibler auf solche Veränderungen achten.
>>>> Zur Person:
Nils Böckler ist Erziehungswissenschaftler und Psychologe am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement der TU Darmstadt. Bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
In dem Projekt „Tat- und Fallanalysen hoch expressiver, zielgerichteter Gewalt“ (Target) forschte er zu Radikalisierungsprozessen terroristischer Einzeltäter und autonomer Zellen. 2018 veröffentlichte er mit Jens Hoffmann das Buch „Von Hass erfüllt – Warum Menschen zu Terroristen und Amokläufern werden“ (mvg Verlag).