Düsseldorf. Manchmal entlassen Kliniken Patienten nicht, weil diese noch keinen Pflegeplatz haben. Doch diese „Fürsorge“ soll jetzt bestraft werden.
Die Krankenhäuser in NRW laufen Sturm gegen neue Strafzahlungen: Seit Kurzem müssen Kliniken zusätzliche Strafen an die Krankenkassen zahlen, wenn sie Patienten nicht zügig entlassen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Häuser keinen Pflege- oder Reha-Platz für einen gerade operierten Menschen finden und ihn dann vorübergehend weiter betreuen.
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zeigte Verständnis für den Protest. Das neue Gesetz zum Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), das seit Januar in Kraft ist, dürfe „nicht zu einer Bestrafungskultur führen“, sagte Laumann der WAZ.
Die Kliniken streuen ihren Protest breit und suchen in diesen Tagen gezielt die Öffentlichkeit: „Strafe für soziale Verantwortung?“ steht in Zeitungsanzeigen, die Klinikverbände aus NRW flächendeckend geschaltet haben. „Wenn unsere Krankenhäuser Patienten nicht entlassen können, weil die Anschlussversorgung nicht gewährleistet ist, müssen sie mindestens 300 Euro Strafe zahlen, zusätzlich zu den Rechnungskürzungen“ erklärte Jochen Brink, Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW (KGNW), für die 340 Kliniken im Land.
Werden Klinik-Mitarbeiter „kriminalisiert“?
Etwa jede zweite von Fachprüfern beanstandete Krankenhausrechnung werde auf ungeklärte oder fehlende Anschlussversorgung für Patienten zurückgeführt, so die Krankenhausgesellschaft. Dafür extra Strafen zu verhängen, sei aber extrem ungerecht, weil die Kliniken die Patienten aus reiner „Fürsorge“ länger versorgten als die Krankenkassen bezahlen wollen. Es gebe einfach zu wenige Betreuungsmöglichkeiten nach Krankenhausaufenthalten, etwa in der Kurzzeitpflege, in einer Reha oder in der Familie. Die Mitarbeiter der Kliniken, die solche Entscheidungen im Sinne der Patienten träfen, würden „gedanklich kriminalisiert“, so Brink. Die KGNW appelliert an „unsere Bundestagsabgeordneten“, das Gesetz schnell zu ändern.
Die Krankenkassen weisen den Vorwurf der Kliniken energisch zurück: Nur drei Prozent der beanstandeten Krankenhausrechnungen seien auf Versorgungsprobleme für die Patienten im Anschluss an die Klinikbehandlung zurückzuführen – und nicht, wie behauptet, die Hälfte.
„Völlig inakzeptabel“ findet Jochen Brink, Chef der Krankenhausgesellschaft NRW (KGNW), dass die Kliniken jetzt mindestens 300 Euro Strafe an die Krankenkassen zahlen müssen, wenn sie Patienten wegen fehlender Anschlussversorgung nicht entlassen können. Es sei schon schlimm genug, wenn die Häuser keine Vergütung erhielten, wenn sie Menschen „aus Fürsorge“ nicht einfach so nach Hause schickten.„Hoch motiviert“ und „nach bestem Wissen und Gewissen“ arbeiteten die Klinikmitarbeiter, direkt am Patienten und bei der Abrechnung, behauptet Brink. Das neue MDK-Gesetz der Bundes, das diese Strafen ermöglicht, „kriminalisiere“ diese fleißigen Menschen. Fälle, in denen den Krankenhäusern nichts andere übrig bleibe als die Betroffenen weiter zu versorgen, gebe es zuhauf.
94-Jährige Herzkranke hätte die Klinik verlassen sollen
Da wird eine 94-jährige Herzkranke, die einen Herzschrittmacher bekommen hat, nicht entlassen, weil kein Reha-Platz zur Verfügung steht. „Der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDK) hat eine frühere Entlassung dennoch für möglich gehalten und fünf Tage Behandlung gestrichen“, ärgert sich eine Krankenhausgesellschaft. Kosten für die Klinik: 1473 Euro. Da sollte ein 83-Jähriger mit Magenproblemen von der Klinik in ein betreutes Wohnen mit integriertem Pflegedienst entlassen werden, weil die Pflege daheim in der Familie nicht mehr gewährleistet war. Der Platz im Wohnheim war aber noch nicht frei. Der MDK hielt eine frühere Entlassung für möglich und strich zwei Behandlungstage. Kosten: 593 Euro.
Und nun sollen in solchen Fällen auch noch zusätzlich Strafen verhängt werden, ärgert sich die KGNW. Bei hohen Krankenhaus-Rechnungen jenseits von 10.000 Euro kämen da schnell mal 800 Euro und mehr Strafe zusammen, rechnet ein KGNW-Sprecher vor. Dabei kassiere der MDK seit Jahren viel Geld durch die Kürzung von beanstandeten Krankenhausrechnungen: Drei Milliarden Euro sollen es 2019 in Deutschland bundesweit gewesen sein. Den rund 340 Krankenhäusern in NRW seien im Jahr 2017 rund 750 Millionen Euro „weggekürzt“ worden. Und viele dieser Kliniken kämpften ums wirtschaftliche Überleben.
Medizinischer Dienst: Vorwürfe der Kliniken maßlos übertrieben
Das „MDK-Reformgesetz“, das Strafzahlungen ermöglicht, soll den Medizinischen Dienst, der die Krankenhäuser prüft, unabhängiger von den Krankenkassen und vor allem effektiver machen. Der Medizinische Dienst soll die Kliniken künftig sogar seltener überprüfen als bisher, dafür aber gezielter. Häuser, die häufig durch fehlerhafte Rechnungen auffallen, müssten mit intensiveren Kontrollen rechnen, erklärt Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des GKV-Spitzenverbandes (MDS). Pick kann die Aufregung der Krankenhausgesellschaft NRW nicht verstehen. „Das Gesetz ist erst seit Januar in Kraft. Bisher sind noch keine Fälle aus diesem Jahr überprüft worden. Warten wir erst mal ab“, rät er. Dass, wie die KGNW behauptet, 50 Prozent der beanstandeten Krankenhausrechnungen auf ungeklärte Anschlussversorgung für die Patienten zurückzuführen sind, ist aus Sicht des Medizinischen Dienstes ein Märchen. Das sei maßlos übertrieben.
Beobachter stellen aber einen Hang mancher Kliniken fest, bei Abrechnungen zu tricksen. Laut ausgesprochen wird das nicht, weil Abrechnungsbetrug schwer nachzuweisen ist. Dass es grundsätzlich richtig und wichtig ist, Krankenhaus-Rechnungen sorgfältig zu prüfen, unterstreicht Rainer Lange, Sprecher der Krankenkasse DAK in NRW. „Es geht hier ja um das Geld der Versicherten, nicht der Kassen“, sagt er. Bewusste Manipulationen möchte Lange keiner Klinik unterstellen. Aber manchmal machten auch Kleinigkeiten hohe Geldbeträge aus. Eine Minute mehr Beatmungszeit bei einem Patienten könne zum Beispiel eine höhere Pauschalzahlung bewirken – über mehrere tausend Euro.
NRW gegen „Bestrafungskultur“
NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) begrüßt zwar das MDK-Reformgesetz des Bundes, weil es einheitliche Regeln bei den Krankenhausabrechnungsprüfungen schaffe. „Diese Entscheidungen dürfen allerdings nicht zu einer Bestrafungskultur führen“, sagte er. Die vom Bundestag „in letzter Minute“ eingeführten verschärften Strafzahlungen für Krankenhäuser hält Laumann daher „nicht für den richtigen Weg“. NRW habe dies auch entschieden abgelehnt.
Weil überall in NRW Kurzzeit-Pflegeplätze fehlen, hat die Landesregierung ein Modellprojekt für Kurzzeit-Pflege in Krankenhäusern gestartet. Das Ev. Krankenhaus Mülheim bietet als erste Klinik in NRW diese Kurzzeitpflege an. Davon profitieren Patienten, die nach einer OP keinen Pflegeplatz finden. Landesweit gibt es nur rund 2000 echte Kurzzeit-Pflegeplätze.