Essen. Das Pharmaunternehmen Novartis verlost 100 Dosen des teuersten Medikaments der Welt. Eine humanitäre Geste oder eine „Überlebens-Lotterie“?

Die Mutter des kleinen Michael freut sich über die Verlosung, mit deren Hilfe 100 Kinder das lebensrettende Medikament Zolgensma erhalten werden. „Natürlich ist eine Lotterie nicht richtig, aber wenigstens macht Novartis irgendwas“, sagte sie. Ihr Sohn kam 2018 auf die Welt, „sechs Wochen dachten wir, er sei kerngesund, dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr“, erzählt Marian Mantel. Diagnose: spinale Muskelatrophie (SMA). Die Familie war verzweifelt.

Der eineinhalbjährige Michael gehört zu den vier Kleinkindern, die bislang in Deutschland Zolgensma gespritzt bekamen. „Es geht ihm gut“, sagt die Mutter glücklich. „Er kann sich jetzt selbstständig umdrehen, er kann sitzen.“

Sozialgesetzbuch reguliert den Umgang mit nicht zugelassenen Medikamenten

Erstritten hat die Kostenübernahme der teuren Therapie für die Familie Mantel der Anwalt Johannes Kaiser aus Olpe. Dass die vier Kinder in Deutschland ein nicht zugelassenes Medikament erhielten, hänge mit einer Ausnahmeregelung im Sozialgesetzbuch zusammen, erklärt Kaiser. Demnach dürfen auch ausländische Mittel in Einzelfällen gegeben werden, wenn eine akut lebensgefährdende Erkrankung vorliegt und es keine oder nur schlechtere Alternativen gibt.

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Seit Montag können sich nun 100 weitere todkranke Kinder Hoffnung auf ein längeres Leben machen. Der Schweizer Pharmariese Novartis startete eine Verlosungsaktion des pro Dosis zwei Millionen Euro teuren Mittels. Am Montag gaben die zuständigen deutschen Behörden dafür grünes Licht. Es dürfte die vielleicht umstrittenste Aktion in der Geschichte der Pharmaindustrie sein. Befürworter sehen darin eine großzügige Geste des Unternehmens, Kritiker sprechen von einer „Überlebens-Lotterie“. Die Glücklichen werden per Zufallsverfahren ausgewählt und erhalten das Mittel kostenlos. Wer nicht dabei war, wandert automatisch in die nächste Runde.

Glück und Zufall ersetzen medizinische Verteilungskriterien

Das Zufallsverfahren löste heftige Kritik aus. „100 Kindern wird geholfen, aber was ist mit den anderen?“, fragt der Bochumer Schmerzmediziner und Ethiker Michael Zenz. Auf diese Weise übe der Konzern Druck auf Krankenkassen und den Gesetzgeber aus, künftig die Kosten zu übernehmen und das Mittel zuzulassen. Zenz nennt das rundweg „Erpressung“. Das Mittel müsse allen zur Verfügung stehen, forderte der Mediziner. Von einem „Glücksspiel“ mit kranken Kindern spricht der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

So funktioniert die Gentherapie

Bei Zolgensma handelt es sich um eine Gentherapie. Bei Kindern mit SMA ist ein Gen namens SMN1 defekt. Deshalb geben die Nervenzellen im Rückenmark die Signale nicht richtig an die Muskeln weiter. Oft leben die Kinder nur wenige Jahre. Das Mittel schleust mittels eines Virus das funktionsfähige Gen in die Zellen ein. Die Nervenzellen können dann einen Teil der Aufgaben wieder übernehmen.

Die Behandlung umfasst nur eine Spritze des Mittels. Die Genetische Veränderung, die durch Zolgensma erfolgt, soll nach Angaben des Herstellers dauerhaft bestehen. Langzeitstudien gibt es jedoch noch nicht.

Eine alternative Therapie gegen SMA erfolgt mit Spinraza. Das Mittel muss im Gegensatz zu Zolgensma regelmäßig gegeben werden. Dazu ist etwa alle vier Monate eine schmerzhafte Injektion in das Rückenmark (Lumbalpunktion) nötig. Eine einzelne Behandlung kostet etwa 100.000 Euro.

Auch der Düsseldorfer Medizinethiker Dieter Birnbacher sieht die Verlosung kritisch. So müssten etwa bei einer Organtransplantation klare Regeln der Zuteilung beachtet werden. Die wichtigsten Kriterien seien hier Dringlichkeit und Erfolgsaussicht. „Eine medizinische Begründung findet bei einer Lotterie aber nicht statt“, so Birnbacher. „Ich finde es sehr kritisch, dass hier Glück und Zufall medizinische Verteilungskriterien ersetzen.“

Die 100 Zolgensma-Dosen stammen aus der US-Produktionsstätte von Novartis

Novartis verweist vor allem auf Sachzwänge: Ihre Produktionsstätte in den USA könne über den inländischen Bedarf nur 100 zusätzliche Dosen zur Verfügung stellen. Daher habe man das Losverfahren entwickelt.

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Eine Erklärung für den hohen Preis des Mittels könnte nach Ansicht von Branchenexperten in den hohen Kosten liegen, die Novartis für Zolgensma entstanden sind. 2018 übernahm der Konzern für umgerechnet acht Milliarden Euro das Unternehmen Avexis, das Zolgensma entwickelt hatte. Diese Investition solle sich irgendwann rentieren. Birnbacher: „Natürlich bewegen sich Pharmafirmen gerne im Hochpreisniveau.“ Das ziele auch auf Arzneien, die eine „letzte Rettung“ versprechen. Birnbacher nennt sie „Strohhalm-Mittel“.