Essen/Jülich. Aus Bildern vom Gehirn können Forscher Charaktereigenschaften ablesen. Das System erkennt womöglich auch, was man sich zu Weihnachten wünscht.
Mit künstlicher Intelligenz können Forscher den Menschen heute beinahe in die Seele schauen. Sie benötigen dafür lediglich eine Aufnahme des Gehirns, einen sogenannten Hirnscan mittels Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT). Aus den Bildern der jeweiligen Hirnaktivität kann ein darauf trainiertes Softwareprogramm ablesen, an welchen psychischen Krankheiten ein Mensch später möglicherweise leiden wird und welche Charaktereigenschaften eine Person besitzt.
„Man kann sagen: Zeigen Sie der künstlichen Intelligenz Ihren Hirnscan und sie sagt Ihnen, wer Sie sind“, bringt der Neurowissenschaftler Simon Eickhoff vom Forschungszentrum Jülich (FZJ) die neuen Möglichkeiten auf den Punkt. „Wir sind heute in der Lage, mit einer selbstlernenden Software komplexe Persönlichkeitsmerkmale wie Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Empathiefähigkeit oder Geselligkeit zu bestimmen und auf Basis der MRT-Aufnahmen vorherzusagen, wie jemand bei einem Persönlichkeitstest abschneiden wird“, erklärt Eickhoff, Leiter des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am FZJ.
Das bietet große Chancen, etwa im Bereich der medizinischen Anwendung. Aber auch unabsehbare Risiken, wenn solche Daten für politische oder wirtschaftliche Zwecke missbraucht würden. Das wissenschaftliche Feld ist so neu, dass eine Debatte darüber noch nicht einmal begonnen hat. Und im Gegensatz zur Gentechnik, die ebenfalls Angaben zu persönlichen Eigenschaften machen kann, ist dieser Forschungsbereich nur über allgemeine Datenschutzrichtlinien reglementiert.
Wie funktioniert das System? Wie lernt die künstliche Intelligenz?
Jedes menschliche Gehirn ist anders. Einige Besonderheiten im Aufbau erkennt jeder Arzt beim vergleichenden Blick auf MRT-Bilder. Andere Unterschiede kann auch ein geschultes Auge nicht erkennen. Das betrifft vor allem Netzwerke, die sich aus verschiedenen Hirnregionen bilden, sobald das Gehirn komplexe Aufgaben zu erledigen hat. Zum Beispiel wenn es Gesichter erkennt oder sich etwas merkt.
Die Jülicher Forscher haben MRT-Scans von Hunderten Versuchspersonen ausgewertet und mit den Daten eine selbstlernende Software (KI) gefüttert. Zudem erhielt die KI Angaben über Alter, Geschlecht und Persönlichkeit. Anschließend trainierten die Forscher die KI darauf, die Gehirnaktivität mit den anderen Daten zu verknüpfen. Eickhoff: „Dadurch lernte sie und war später in der Lage, Voraussagen über andere Menschen zu treffen, von denen sie nichts weiter als die Hirnscans vorgesetzt bekam.“
Was lässt sich aus den Daten über einen Menschen sagen?
Im Vordergrund steht für die Forscher der medizinische Nutzen. Das Verfahren könnten es künftig möglich machen, den Verlauf von psychischen oder neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz, Depression oder Parkinson individuell vorherzusagen, noch bevor der Arzt erste Symptome erkennt. Dadurch ließe sich die Behandlung frühzeitig anpassen.
Die KI erkennt aber auch kognitive Fähigkeiten wie etwa das Arbeitsgedächtnis oder die Konzentrationsfähigkeit von Menschen. Schwieriger ist es, Persönlichkeitsmerkmale aus dem Hirnbild abzuleiten. Jedoch lassen die Ergebnisse bereits gute Rückschlüsse darüber zu, ob ein Mensch eher neugierig oder vorsichtig, nachlässig oder penibel, zurückhaltend oder gesellig, rücksichtlos oder verletzlich ist – und so weiter.
Eine Modelleisenbahn zu Weihnachten?
Unter fünf Werte subsumiert das Modell solche Eigenschaften. „Das kann eine Person nicht komplett abbilden“, räumt Eickhoff ein, „aber es kann einen Menschen schon relativ genau beschreiben.“
Selbst was sich eine Person zu Weihnachten wünscht, könnte das System theoretisch herausfinden. „Man müsste nur wissen, wie das Gehirn eines Menschen aussieht, der sich eine Modelleisenbahn wünscht. Dann ließe sich das auf andere Personen anwenden“, meint Eickhoff.
Welche moralischen Bedenken gibt es?
Auch für Unternehmen, Richter, Anwälte, Versicherungen oder staatliche Einrichtungen sei das KI-Verfahren künftig natürlich interessant, sagt Eickhoff. Man könnte damit etwa die Rückfallgefahr von Straftätern ermitteln.
Hirnscans könnten in Zukunft auch die klassischen Tests oder Fragebögen bei Bewerbungsverfahren ersetzen. Ein Personalchef würde dem Bewerber quasi ins Gehirn schauen können. Sorge bereitet den Forschern aber auch ein möglicher Missbrauch der Daten durch Versicherungen oder autoritäre Staaten.
Kommt bald die Persönlichkeitsanalyse mit KI?
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In der Praxis sind die Jülicher noch nicht so weit. Zwar können sie nach eigenen Angaben bestimmte psychische Eigenschaften mit einer Genauigkeit von bis zu 70 Prozent aus den MRT-Daten vorhersagen. Für die Forschung sei das ein hoher Wert, mit dem man arbeiten könne.
Doch für eine praktische Anwendung ist das zu ungenau. „Eine solche Treffsicherheit reicht nicht aus, wenn es zum Beispiel darum geht, ob ein vielleicht rehabilitierter Sexualstraftäter entlassen werden kann“, sagt Eickhoff. Auch eine Genauigkeit von 99 Prozent ergebe in 1000 Fällen immer noch 10 Fehler.
Was ist in Zukunft zu erwarten?
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„Wir haben gezeigt, dass es geht“, sagt Eickhoff. An der Treffsicherheit werde weiter gearbeitet. Doch werde es noch Jahre dauern, bis das System in der Praxis so zuverlässige Ergebnisse liefert, dass auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden können. Doch eine Debatte über Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung müsse bereits heute beginnen.
Eickhoff: „Wenn das in der Praxis immer besser funktioniert, müssen wir uns über die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen einer Anwendung im Klaren sein.“ Eine zu strikte Begrenzung der Forschung durch gesetzliche Regelungen hält Eickhoff indes für falsch. Doch werde es Zeit, dass Politik und Öffentlichkeit das Thema wahrnehmen. „Wir sollten die Forschung nicht stoppen. Aber auch nicht einfach weitermachen und erst später darüber nachdenken.“
>>>> Eine von Europas größten Forschungseinrichtungen
Das Forschungszentrum Jülich wurde 1956 als Atomforschungsanlage gegründet. Mit dem Ende der Atomforschung wurde die Einrichtung 1990 umbenannt in „Forschungszentrum Jülich“ (FZJ). Heute betreibt das Zentrum, gestützt auf die Kernbereiche Physik und Supercomputing, interdisziplinäre Forschung in den Bereichen Gesundheit, Energie, Umwelt und Information.
Mit rund 6100 Mitarbeitern gehört das FZJ nahe Aachen zu den größten Forschungseinrichtungen Europas. Es verfügt über ein Budget von rund 700 Millionen Euro im Jahr. 60 Prozent der Summe tragen der Bund und das Land NRW – davon der Bund 90 und NRW 10 Prozent. Die restlichen 40 Prozent sind private oder öffentliche Projektgelder (Drittmittel). Das FZJ ist eines von 19 Zentren der Helmholtz-Gemeinschaft.