Dortmund. Große Klassen, Flüchtlingskinder, Sprachprobleme, zu wenig Lehrkräfte – Vorsitzende des Grundschulverbands warnt vor einem Kollaps der Schulen
Aufgeregt stürmt der Junge in das Zimmer der Schuldirektorin. „Frau Mika, Frau Mika, die Lehrerin hat mich festgehalten.“ Und er greift sich selbst hart an den Unterarm, um seine Empörung zu demonstrieren. Christiane Mika geht mit ruhiger Stimme auf ihn ein. „Einer unserer Systemsprenger“, sagt sie später. „Er ist hochintelligent, aber kaum zu bändigen.“ Neun Jahre alt, dritte Klasse. „Auf Schulausflügen oder im Schwimmunterricht ist er super.“ Aber in einer Klasse mit 25 Kindern kommt er oft nicht klar, erhält zu wenig Aufmerksamkeit und Rückmeldung. Dann setzt er sich auf den Tisch oder trommelt gegen Schränke, erklärt die Schulleiterin.
Christiane Mika (57) nimmt sich viel Zeit für ihn, „ich will ihn nicht verlieren“, sagt die engagierte Pädagogin. „Aber es ist unter den aktuellen Bedingungen nicht möglich, allen Kindern gerecht zu werden.“ Mika, Vorsitzende des Grundschulverbands NRW, leitet seit 14 Jahren die Libellen-Grundschule im Dortmunder Norden. Ein Stadtteil, den man mit Fug als sozialen Brennpunkt bezeichnen kann.
Manche Kinder sprechen noch kein Wort Deutsch
360 Kinder gehen hier zur Schule, 95 Prozent der Mädchen und Jungen haben eine Zuwanderungsgeschichte. In jeder Klasse sitzen drei bis fünf Kinder, die noch kein Deutsch sprechen. Manche waren vom Krieg so traumatisiert, dass sie schrien, wenn sie einen Rettungshubschrauber hörten. „Die Flüchtlingskinder tragen einen ganzen Rucksack von Problemen mit sich“, sagt Mika. Die Sprache, die Fluchtgeschichte, die Sorge um Angehörige, die Aufenthaltserlaubnis, die Unterkünfte – und überhaupt: alles ist neu, alles ist fremd. Andere Kinder kommen ohne Frühstück in die Schule oder tragen noch den Schlafanzug unter ihrer Jacke. Alltag an der Libellen Grundschule.
Die Sprachprobleme gehören zu den größten Herausforderungen für die Lehrkräfte. Aber Mika betont: Kein Kind komme sprachlos in die Schule. „Einige sprechen zwei oder drei Sprachen und lernen jetzt noch Deutsch.“ Das sei ein Schatz. „Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass jedes Kind die Förderung bekommt, die es braucht.“ Wie das gehen soll? Christiane Mika hebt die Arme.
Mehr Aufgaben mit gleichem Personal
„Die Herausforderungen haben in den letzten Jahren dramatisch zugenommen“, erzählt die Lehrerin. Hausbesuche bei den Eltern, Schuldnerberatung, Ämtergänge, Wohnungssuche, Mietfragen, Konflikte, Asylanträge, Elterngespräche, bei allen Fragen hilft das Team aus Sozialarbeitern und Lehrkräften – neben dem aufreibenden Schulalltag. „Und das mit einer Personalausstattung wie vor 20 Jahren, die die veränderten Aufgaben überhaupt nicht angemessen berücksichtigt“, sagt Mika. „Das geht so nicht weiter.“ Heute haben sich sechs Kolleginnen krank gemeldet, das Sekretariat ist nicht besetzt und zu allem Überfluss ist auch noch die Heizung ausgefallen.
40 Prozent der Kinder wiederholen die zweite Klasse
Unter diesen Bedingungen sei es den Lehrkräften nicht möglich, allen Kindern die gleichen Chancen zu bieten. „In viel zu großen Klassen haben wir viel zu wenig Zeit und Personal, um auch nur annähernd den Kindern, die immer mehr Rückmeldung, Zuwendung und Hilfen brauchen, gerecht zu werden“, sagt Mika. Die Kinder wollen ja lernen. Dennoch verbleiben immer mehr Kinder, inzwischen rund 40 Prozent, drei Jahre in der Schuleingangsphase und benötigen somit insgesamt fünf Jahre für die Grundschule. Auch dafür fehlten die Plätze und die Kräfte.
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Es brenne an den Grundschulen im Land. „Wenn nicht bald entschiedene Taten folgen, droht uns das Bildungssystem zuerst an den sozial benachteiligten Stadtvierteln um die Ohren zu fliegen – mit unabsehbaren Folgen“, warnt die Vorsitzende des NRW-Grundschulverbands. Die Politik komme ihrer Steuerungspflicht nicht nach, findet sie.
Dortmunder Denkzettel für die Ministerin
Kürzlich musste NRW-Schulministerin Yvonne Genauer (FDP) den „Dortmunder Denkzettel“ in Empfang nehmen. Es ist eine lange Auflistung von Mängeln und Forderungen des Gesamtschul- und des Grundschulverbands für Schulen in sozialen Brennpunkten: Kleinere Klassen, mehr Lehrkräfte, Sonderpädagogen und Schulsozialarbeiter, mehr Ganztagsplätze, der gleiche Lohn wie Sekundarstufen-Kräfte, Unterstützung bei der Inklusion. „Das Bildungssystem muss von unten nach oben finanziert werden“, fordert Mika. Die größten Klassen sollte es nicht ausgerechnet an Schulen geben, die auch die größten Problemen haben.
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Fünf „Ordnungsmaßnahmen“ wegen gewalttätigen Verhaltens habe sie in der vergangenen Woche aussprechen müssen, so viele wie noch nie, sagt Mika. „Das machen wir nur als letzte Maßnahme, wenn alle pädagogischen Bemühungen erfolglos geblieben sind. Denn für uns ist das eigentlich eine pädagogische Bankrotterklärung“, seufzt die Schulleiterin: Ein Mädchen in Rage trat einer Lehrerin mehrfach mit voller Wucht gegen das Schienbein. Drei Jungs traten auf einen Mitschüler ein. Ein Junge boxte seine Lehrerin. „Wenn sich nicht bald etwas ändert, wird mir angst und bange.“
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Dann wendet sie sich wieder der kleinen Davina aus Syrien zu. Das fünfjährige Mädchen macht heute das „Schulspiel“ – es ist ein spielerischer Test zur Anmeldung im Sommer. Mit einem Stift zieht das Mädchen konzentriert Linien zwischen vorgezeichneten Punkten auf einem Aufgabenblatt. „Das hast du prima macht“, lobt die Schulleiterin. „Und ab Januar kommst du nachmittags wieder, um die Schule kennenzulernen, und dann besuchst du unser Matheprojekt.“ Die Kleine strahlt. Christiane Mika gibt nicht auf.
>>>> Lehrer-Zuschlag
Mit einem Lehrer-Zuschlag für unattraktiven Schulstandorte will Schulministerin Yvonne Gebauer mehr Kräfte an Brennpunktschulen locken. Dies ist ein Teil des Maßnahmenpakets gegen den Lehrermangel, gab die Ministerin kürzlich bekannt.
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Bei Neueinstellungen können ab 2020 für zweieinhalb Jahre monatliche Zuschläge von 350 Euro brutto gezahlt werden. Bis 2022 sollen dafür insgesamt 17 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Zudem will das Land mit Großflächen-Plakaten um Lehrer werben.