Essen/Düsseldorf. Nachtschicht: wohin mit dem Kind? Der Alleinerziehenden-Verband hat Lösungen für Randzeitenbetreuung. Aber die will das Land nicht unterstützten.
Plötzlich war er alleinerziehend. Weil Angelo Di Marcos (31) frühere Partnerin Anfang des Jahres vor dem Zusammenbruch stand, entschied sich über Nacht, dass ihr gemeinsamer Sohn (9) bei Papa leben soll. Nur musste Di Marco, als Gleisbauer bei der Rheinbahn beschäftigt, täglich um 6 Uhr auf der Arbeit sein. Wo und von wem sollte das Kind um diese Zeit betreut werden?
„Mein Chef war zum Glück sehr nachsichtig und ermöglichte es mir, erst um 8 Uhr zu starten und dann zwei Stunden länger als die Kollegen in der Werkstatt zu bleiben“, erzählt der Essener. Dass es sich bei diesen Sonderzeiten nur um ein Provisorium handeln konnte, war Di Marco klar. Ab 2020 soll er wieder zu regulären Zeiten beginnen. Und wird es können. Denn ab Januar wird sein Sohn von einem Kinderkobold oder einer Kinderfee geweckt.
Brandbrief an die Bürgermeister in NRW
So nennen sich die Ehrenamtlichen, die sich beim landesweit einmaligen Projekt „Sonne, Mond & Sterne“ vom Verband der alleinerziehenden Mütter und Väter (VAMV) engagieren. Sie gewährleisten eine Betreuung daheim und in den Randzeiten. Die Stadt Essen hat das Programm in den regulären Betreuungskanon aufgenommen. Bislang mit 20 Plätzen – „was zu wenig ist und den Bedarf nicht deckt“, sagt Ute Zimmermann vom VAMV.
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Ihr Verband fordert nicht nur, die Betreuungsplätze in dem Programm zu verdoppeln, auch sollen andere Kommunen dem Beispiel Essens folgen. Um auf die Notwendigkeit eines solchen Angebots aufmerksam zu machen, hat der VAMV bereits im vergangenen Oktober Brandbriefe an die Stadtspitzen der Ruhrgebietsstädte geschickt. Die Reaktionen darauf: „wohlwollend und ärgerlich“ zugleich. „Die Dimensionen des Problems werden von Politik und Verwaltung zwar durchaus erkannt, Lösungen aber nicht konsequent umgesetzt.“ Zahlreiche Kommunen hätten in ihren Antworten ausschließlich auf den Ausbau im Bereich der Kindertagespflege verwiesen.
„Leider wird das Thema nur auf die Kitas reduziert“, beklagt VAMV-Kollegin Anja Stahl. Fälle wie der neunjährige Sohn von Angelo Di Marco würden zeigen, wie wichtig die Randzeitenbetreuung für Grundschulkind sei. In Kitas sollen flexible Öffnungszeiten durch die Reform des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz) ermöglicht werden. Wäre Di Marcos Sohn im Kindergarten, wäre ihm damit theoretisch geholfen – auch wenn er „Bauchschmerzen“ beim Gedanken bekommt, sein Kind vor fünf Uhr wecken zu müssen, um pünktlich bei der Arbeit zu sein.
Auf einen Platz kommen 17 Alleinerziehende
Nicht einmal in der Theorie dagegen lösen früher öffnende Kitas dagegen die Probleme von alleinerziehenden Eltern wie Philla Ayaa. Die 29-Jährige hat vor kurzem ihre Ausbildung zur Altenpflegerin begonnen und hat ihren vier Monate alten Sohn derzeit tagsüber bei einer Tagesmutter. Ihr graut es jedoch davor, dass der Schulblock in wenigen Wochen vorbei ist – und sie dann mit Schichtdienst in die Praxisphase starten muss. Ayaa wäre dann auf Betreuung vor 7 Uhr morgens (Frühschicht), nach 15 Uhr (Spätschicht) oder nach 21 Uhr (Nachtdienst) angewiesen – Uhrzeiten, zu denen die Türen bei der Tagesmutter geschlossen sind. „Ich werde diese Ausbildung aber nicht aufgeben“, gibt sich Ayaa entschlossen.
Misserfolg 24-Stunden-Kitas
Eine Option für Betreuung zu Randzeiten sind auch 24-Stunden-Kitas – ein Angebot, über das NRW-Familienminister Joachim Stamp vor einem Jahr noch mit reichlich Enthusiasmus sprach, das sich inzwischen allerdings als Misserfolg entpuppt hat.
In Bochum etwa, wo eine Kita ab Januar 2016 über das Bundesprogramm „Kitaplus“ Rund-um-die-Uhr-Betreuung anbieten konnte, wurde das Angebot aufgrund zu geringer Nachfrage inzwischen eingestellt. Als Ausgleich will die Stadt nun in allen Stadtbezirken eine „Flex-Kita“ mit Öffnungszeiten fernab von 8 und 16 Uhr einrichten, heißt es auf Anfrage.
24-Stunden-Kitas werden auch vom Verband der allein erziehenden Mütter und Väter kritisch gesehen. „Kindern wird dabei sehr viel zugemutet“, heißt es.
Ihr wäre geholfen, wenn sich ein Kinderkobold um ihren Sohn kümmern würde. Aber es sind alle Plätze bei „Sonne, Mond & Sterne“ vergeben. Die Warteliste ist lang: Auf einen der 20 Betreuungsplätze kommen 17 Wartende – kaum ein Platz weniger dringend als der andere. „Deswegen ist eine Erweiterung des Projekts so wichtig“, sagt Ute Zimmermann vom Alleinerziehendenverband.
Ähnlich sieht das die SPD-Fraktion im Landtag. „Das Projekt ist beispielgebend“, sagt Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher. Es setzte das Kindeswohl in den Fokus und zwinge Kinder nicht, sich den Arbeitszeiten der Eltern anzupassen. Maelzers Fraktion hat deshalb zweimal gefordert, „Sonne, Mond und Sterne“ auf ganz NRW auszuweiten und regelfinanziert ins KiBiz zu integrieren – ohne Erfolg, unter anderem aufgrund von Widerstand der CDU.
Entscheidung der Jugendämter
Bei den Christdemokraten sieht man keine „pragmatischen“ Projekte wie „Sonne, Mond und Sterne“ als Allheilmittel, sondern verweist auf die 100 Millionen Euro, die über die KiBiz-Reform für „bedarfsgerechte Öffnungszeiten in frühen Morgen- oder späten Abendstunden“ in die Kitas investiert werden sollen. „Damit schaffen wir strukturelle Lösungen für Familien“, so Jens Kamieth, Fraktionssprecher für Familie. Ob die angehende Altenpflegerin Philla Ayaa damit die Betreuung ihres Sohnes in der Nacht sicherstellen kann?
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Das NRW-Familienministerium verweist auf Anfrage zusätzlich darauf, dass man mit dem Inkrafttreten des neuen KiBiz ab dem 1. August 2020 den Jugendämtern einen Zuschuss zu flexiblen Sonderbetreuungsangeboten, etwa am Wochenende oder in den frühen Morgenstunden, gewähren will. „Welche Angebote vor Ort gemacht werden können, entscheiden die Jugendämter“,, heißt es aus dem Ministerium.
Der Alleinerziehenden-Verband hofft, dass der Einsatz von Kinderfeen bei den Überlegungen der Jugendämter berücksichtigt werden. Zu viel Hoffnung macht man sich aber nicht, weshalb der Verband nun verstärkt auf Arbeitgeber zugeht, um bei der Bereitstellung familienfreundlicher Schichten zu unterstützten. „Viele sind hier aufgeschlossen“, sagt Zimmermann. Familienschichten zu den Kernzeiten seien bei vielen ambulanten Pflegediensten etwa keine Seltenheit mehr.