Düsseldorf. Die Gefängnisse sind schon lange voll und marode. Und zehntausende Menschen, gegen die ein Haftbefehl vorliegt, laufen frei herum.

Der Bund deutscher Kriminalbeamter (BdK) fordert angesichts von zehntausenden nicht vollstreckten Haftbefehlen in NRW bessere Möglichkeiten für die Fahndung nach Straftätern. „Um wieder gezielter nach diesen Personen fahnden zu können, benötigt die Kriminalpolizei mehr Personal“, sagte Marc Ritter, stellvertretender BdK-Landesvorsitzender, dieser Redaktion. Im Februar dieses Jahres gab es laut LKA in NRW 33.017 offene Haftbefehle, darunter 8.839 Straf-Haftbefehle, die verhängt werden, weil zum Beispiel ein Verurteilter den Haftantritt verweigert.

Das NRW-Justizministerium kündigte aktuelle Zahlen zu den offenen Haftbefehlen für diese Woche an. Sie dürften sich aber nicht wesentlich von den bisherigen Zahlen unterscheiden. Der SPD-Innenexperte Sven Wolf sieht Innenminister Herbert Reul (CDU) in der Verantwortung. „Er redet immer von Null-Toleranz. Aber wenn es konkret wird, kommt da nichts mehr“, sagte Wolf dieser Zeitung. „Fast 9000 Straftäter laufen unbehelligt durch unsere Innenstädte. Und niemanden in der Landesregierung stört das. Mich schon.“

Fahndungs-Dienststellen vor Jahren aufgelöst

Marc Ritter vom BdK bedauert, dass die speziellen Fahndungs-Dienststellen, die es früher bei der Polizei in NRW gab, schon vor Jahren wegen Personalknappheit und Umorganisationen aufgelöst wurden. „Seitdem wird leider nicht mehr mit derselben Intensität nach Menschen mit offenen Haftbefehlen gefahndet“, erklärt Ritter. „Diese Fälle verschwinden zwar nicht, werden aber nur noch im Rahmen der normalen Polizeiarbeit bearbeitet, zum Beispiel, wenn eine Person mit offenem Haftbefehl bei einer polizeilichen Kontrolle auffällt.“

Das NRW-Justizministerium sagte auf Nachfrage, dass nicht alle, die zur Festnahme ausgeschrieben sind, auch festgenommen werden können, weil sich viele dieser Menschen ins Ausland absetzten oder dorthin abgeschoben wurden. Verhaftet werde erst, wenn diese Personen nach Deutschland einreisten. Eine Fahndung im Ausland wäre in vielen Fällen unverhältnismäßig aufwändig.

Gefängnis-Neubau dauert noch Jahre

Selbst wenn künftig wieder mit Hochdruck nach Menschen mit offenem Haftbefehl gefahndet würde, hätte NRW wohl nicht genügend Platz in den Gefängnissen. Die Haftanstalten sind heute schon überfüllt. Laut Justizministerium sind im Moment nur 17.406 Haftplätze „belegungsfähig“. Davon sind 15.618 belegt. Ein Teil dieser 1788 Haftplätze entfällt auf Jugendliche und Frauen, so dass im geschlossenen Männervollzug nur etwa 1000 Plätze landesweit „frei“ sind. Der bauliche Zustand vieler Gefängnisse ist schlecht. Bis zur Fertigstellung neuer Gefängnisse in Münster, Willich, Iserlohn und Köln dürften noch sechs bis zehn Jahre vergehen.

Einerseits volle und zum Teil baufällige Knäste, andererseits zehntausende nicht vollstreckte Haftbefehle. Seit vielen Jahren ist das so in NRW, und Hoffnung, dass sich die Lage zügig entspannen könnte, sollte sich keiner machen.

Das NRW-Justizministerium spricht von einem „erheblichen Sanierungsbedarf“ bei den Gefängnissen. Im Justiz-Modernisierungspropgramm des Landes stehen zwar schon seit der rot-grünen Vorgängerregierung rund 1,2 Milliarden Euro zur Verfügung, um in Münster, Willich, Iserlohn und Köln rund 2750 Haftplätze zu erneuern, aber trotz einer „beschleunigten“ Planung wird es Jahre dauern, bis wieder mehr Platz ist in den Gefängnissen. Frühestens 2024/25 dürften die Projekte in Münster und Willich abgeschlossen sein, heißt es in einem Bericht der Landesregierung. Wie lange es insgesamt dauert, könne „noch nicht abschließend beurteilt werden“, so das Ministerium. Die SPD dringt auf mehr Tempo. „Die Belastungen für die Bediensteten in den Haftanstalten und die Gefangenen werden größer“, so SPD-Innenexperte Sven Wolf.

Nach Schwerverbrechern wird aufwändig gefahndet

Andererseits müssen viele, die verhaftet werden sollen, nicht damit rechnen, dass die Polizei sie mit großem Aufwand sucht. Mehr als 30.000 Haftbefehle sind „offen“. Darunter sind notorische Schwarzfahrer oder Menschen, die eine Geldstrafe nicht bezahlen und dafür eine Freiheitsstrafe verbüßen müssen. Es sind aber auch Gewalttäter und Rechstextreme dabei.

„Das bedeutet nicht, dass nach Schwerverbrechern nicht intensiv gefahndet wird. Ein flüchtiger Mörder wird natürlich von der Kriminalpolizei aufwändig gesucht“, erklärt Marc Ritter vom Bund deutscher Kriminalbeamter (BdK). Im Landeskriminalamt beschäftige sich auch eine Zielfahndung mit den „ganz schweren Jungs“. Dennoch fände Ritter es richtig, wenn es mehr Kriminalbeamte gäbe, die Menschen mit offenen Haftbefehlen gezielt suchen könnten.

Viele, die zur Festnahme ausgeschrieben sind, halten sich im Ausland auf

Das NRW-Justizministerium erklärt, dass sich viele, die zur Festnahme ausgeschrieben sind, im Ausland aufhalten. Ist zum Beispiel eine Geldstrafe zu vollstrecken und der Schuldner nicht auffindbar, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob auch im Ausland nach der Person gefahndet werden soll. Meist beschränke man sich aber auf eine Ausschreibung zur Festnahme in Deutschland. „Man wartet ab, bis der Verurteilte wieder einreist. Dann wird er verhaftet, zahlt und wird wieder entlassen.“

Einen Zusammenhang zwischen den vielen offenen Haftbefehlen und den wenigen zur Verfügung stehenden Haftplätzen gibt es laut Marc Ritter „ganz sicher nicht“. Die Polizei mache ihre Arbeit, unabhängig davon, ob die Gefängnisse voll seien. ​