Düsseldorf. Der Untersuchungsausschuss des Landtags zum massenhaften Kindesmissbrauch tagte erstmals öffentlich - und befasste sich mit Löchern im Hilfenetz.
Nach der Verurteilung der Haupttäter zu langen Haftstrafen nimmt im Missbrauchsfall „Lügde“ die politische Aufarbeitung Fahrt auf. Bei der ersten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses im NRW-Landtag spürten die Abgeordneten am Freitag mit einer Anhörung von vier Experten aus der Jugendhilfe der Frage nach, welche strukturellen Lehren aus dem jahrelangen Missbrauch auf einem Campingplatz in Ostwestfalen gezogen werden müssen.
Verbesserungswürdig zeigt sich der Austausch zwischen Schulen, Kitas und Jugendämtern. Auch scheint es für Lehrer und Erzieher schwierig zu sein, Hinweise auf Missbrauch zu erkennen und den zuständigen Behörden zu melden. In Lügde wurden mindestens 40 Kinder teilweise über Jahre schwer missbraucht, doch nur zwei von ihnen schafften es, sich bemerkbar zu machen. „Warum sind sie in der Schule oder Kita nicht aufgefallen“, fragte Lorenz Bahr vom Landschaftsverband Rheinland. Statistisch seien in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen, ohne dass es bemerkt werde.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Jugendämter hat augenscheinlich erst durch den Schock von Lügde deutlich Auftrieb bekommen. Es gebe nun Informationen von der Polizei Richtung Jugendämter, die „es vorher so nicht gegeben hat“, stellte Matthias Lehmkuhl vom Landesjugendamt Westfalen fest.
„Wenn man sagt, man ist vom Jugendamt, ist die Familie in Schockstarre“
Ein Problem beim Verdacht auf Kindesmissbrauch könnten die großen Ermessensspielräume der lokal zuständigen Behörden sein. Der frühere Jugendamtsleiter Werner Fiedler aus Gladbeck machte deutlich, dass es an landeseinheitlichen Eingriffskriterien fehle und das Zusammenwirken unterschiedlicher staatlicher Stellen zu oft vom persönlichen Kontakt zu jeweiligen Mitarbeiter abhänge. Sandra Eschweiler vom Landschaftsverband Rheinland warb unterdessen um Verständnis, dass bei Hinweisen auf Missbrauch eine sorgsame Abwägung nun einmal notwendig sei: „Wenn man schellt und sagt, man ist vom Jugendamt, ist die Familie in Schockstarre.“
Dass in Lügde ausgerechnet der inzwischen verurteilte Haupttäter und Campingplatz-Bewohner Andreas V. als Pflegevater eines Kindes ausgewählt wurde, ist aus Sicht der Jugendhilfe-Experten nur mit den Besonderheiten des Vormundschaftsrechts zu verstehen. Die Mutter des Kindes hatte Andreas V. als Pflegevater ausgewählt, weil es eine langjährige persönliche Bindung gab. „Die prekäre Wohnsituation ist bemerkt worden“, sagte Lehmkuhl. Aber die Pflegeerlaubnis könne man in solchen Fällen nur versagen, wenn das Kindeswohl nicht gewährleistet sei. Dies ist für ein Amt offenbar nicht leicht, rechtssicher zu belegen. Zudem fehlt es an Pflegefamilien. Und die Heimunterbringung kommt die Kommunen viel teurer.