Düsseldorf. Zwei Jahre nach der Landtagswahlpleite erobern die Grünen offenbar sogar ihre Diaspora Ruhrgebiet. Woher kommt und wohin führt der Zuspruch?
Als am Samstag die ersten Zahlen des RTL/n-tv-Trendbarometers die Führungskräfte der NRW-Grünen im Urlaub oder auf politischer Sommertour erreichen, wird einigen heiß und kalt zugleich. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa sieht die Öko-Partei erstmals als stärkste politische Kraft im Ruhrgebiet. Ausgerechnet dort, wo für die Grünen so lange nichts zu holen war.
Bei der Landtagswahl 2017 wurde man zwischen Duisburg und Dortmund mit 5,5 Prozent rüde abgestraft. Nirgendwo war die „Verbotspolitik“ des ehemaligen grünen Umweltministers Johannes Remmel unbeliebter als in der Industrieregion an Rhein und Ruhr. Nirgendwo liefen Eltern und Lehrer entschlossener Sturm gegen die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann und ihren Umgang mit Inklusion, Unterrichtsausfall und „Turbo-Abitur“. Da konnte Löhrmann, eine gebürtige Essenerin, im Wahlkampf noch so sehr von ihrer Kindheit in Bergeborbeck schwärmen.
Doch nun ist alles anders. Was sich bereits bei der Europawahl abzeichnete, setzt sich augenscheinlich fort: Die Grünen machen sich im Ruhrgebiet breit. Für Forsa-Chef Manfred Güllner ist der Höhenflug erklärbar: „Die Grünen füllen aktuell geschickt das Vakuum in der Mitte, das CDU und SPD haben entstehen lassen. Sie bleiben in ihren Positionen vage und erscheinen deshalb für viele Menschen wählbar.“
„Sie bleiben in ihren Positionen vage und erscheinen deshalb wählbar“
Der Rückenwind aus Berlin, entfacht von den smarten Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock, hilft gewiss. Zudem zahlen gesellschaftliche Großthemen wie Klimawandel und Energiewende gerade voll bei den Grünen ein. Doch in NRW wurden auch Hausaufgaben gemacht. Die Landesvorsitzenden Mona Neubaur und Felix Banaszak haben in der Schulpolitik vorsichtige Korrekturen vorgenommen und verzichten in der öffentlichen Kommunikation inzwischen auf den erhobenen Zeigefinger.
Auch interessant
Für Arndt Klocke, den Grünen-Fraktionschef im Landtag, sind die demoskopischen Werte ein Statement der Bürger: „Der Wunsch nach mehr und echtem Klimaschutz, einer Mobilitätswende, mehr Gerechtigkeit und Kampf gegen Rechts zeigt sich in dieser neuen NRW-Umfrage“, schreibt er bei Twitter. Wer von der Großen Koalition in Berlin die Nase voll hat, die Performance der schwarz-gelben Landesregierung nicht sonderlich überzeugend findet, aber niemals in Wahlenthaltung oder zur AfD flüchten würde, tendiert zu den Grünen.
Für Meinungsforscher Güllner ist der Aufstieg der Öko-Partei in der einstigen „roten Herzkammer“ jedoch nicht ohne das dramatische Siechtum der SPD zu verstehen: „Die SPD hat es versäumt, im Ruhrgebiet die Gewinner des Strukturwandels, auf die ihre Politik ja eigentlich einmal ausgerichtet war, als Wähler an sich zu binden.“
Auf der Suche nach dem NRW-Kretschmann
Die Grünen müssen nun ihre Kreisverbände fit machen für die Kommunalwahl 2020. Wenn die Stimmung nicht völlig einbricht, winken viele zusätzliche Ratsmandate und einige Bürgermeister-Posten. Bislang stellt man in NRW lediglich in den Kleinstädten Telgte und Windeck den Rathaus-Chef. Sind die Grünen reif für solch rasantes Wachstum? Was der Parteispitze Mut macht, sind die Biografien der zahlreichen Neu-Mitglieder. Da kämen keine Karrieristen und Abenteurer, sondern eher Ehrenamtler aus lokalen Initiativen, die bislang mit Parteipolitik nichts am Hut hatten.
Auf Landesebene sind die Grünen inzwischen Nummer zwei, in Schlagdistanz zur CDU von Ministerpräsident Armin Laschet. Geht da was bei der Landtagswahl 2022? Schwarz-Gelb hat seit Monaten in keiner NRW-Umfrage mehr eine Regierungsmehrheit. Der traditionell eher linke Grünen-Landesverband träumt wohl kaum davon, als Junior-Partner einer schwarz-grünen Koalition herzuhalten.
Noch fehlt die grüne Galionsfigur in NRW, die wie Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, Tarek Al-Wazir in Hessen oder Katharina Schulze in Bayern der Partei dauerhaft die politische Mitte erschließen könnte. Meinungsforscher Güllner glaubt aber nicht, dass ein grüner Heilbringer vom blauen Himmel über der Ruhr fallen müsste: „Auch ein Winfried Kretschmann hat sich erst im Ministerpräsidenten-Amt zum Wählermagneten entwickelt.“