Essen. . Das Ruhrgebiet gehört zu den großen Gewinnern der europäischen Förderpolitik. Auch umgekehrt gilt: Ohne das Revier wäre die EU deutlich ärmer.
„Meine Stimme für Europa“: Seit Wochen rührt das Ruhrgebiet mit diesem Slogan die Werbetrommel für die Europawahl am 26. Mai. Entwickelt vom Regionalverband Ruhr (RVR), prangt das Logo auf Bussen, Straßenbahnen, E-Mail-Signaturen, Briefumschlägen und – wie im Falle Xantens – sogar auf Parktickets. Noch nie hat es eine derart breite Kampagne aller Revierkommunen für eine EU-Wahl in der Region gegeben.
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Der Einsatz kommt nicht von Ungefähr. Das Ruhrgebiet, weiß, was es an der EU hat. Jedenfalls weiß es der RVR. „Wir sollten die Wahl dazu nutzen, Europa mitzugestalten“, sagt RVR-Direktorin Karola Geiß-Netthöfel. Zudem stehe das Ruhrgebiet für eine Vielfalt an Menschen und Kulturen. Geiß-Netthöfel: „Es ist praktisch ein Europa im Kleinen.“
Als einzige Region in Deutschland leistet sich das Revier deshalb eine eigene kleine Stabsstelle für Europa-Angelegenheiten. Das ist eher unüblich, denn Brüssel kennt zwar Regionen, doch die sind im Falle Deutschlands die Bundesländer. „Aus EU-Sicht sind wir eine Subregion“, sagt Michael Schwarze-Rodrian, Leiter des 2012 gegründeten RVR-Referats für europäische und regionale Netzwerke. Andererseits ist das Revier Deutschlands größter Ballungsraum und historisch ohnehin eine Art Keimzelle der EU (siehe Infokasten). Da darf man gegenüber Brüssel schonmal etwas Selbstbewusstsein an den Tag legen, auch wenn man kein Bundesland ist.
Nicht jede Stadt kann sich ein Europa-Büro leisten
Eigentlich aber geht es um Dienstleistungen. Denn Europa ist kompliziert, das Antragswesen für Fördergelder eine Wissenschaft für sich. Nicht jede Revierkommune kann sich ein eigenes Europa-Büro leisten so wie Essen. Oft werden Europa-Aufgaben von Behörden quasi im Nebenamt mitbetreut.
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Michael Schwarze-Rodrian bildet mit seinen fünf Mitarbeitern eine Art Expertenbüro in Sachen Europa. Das RVR-Büro berät kommunale Behörden und private Initiativen in Europa-Fragen, lichtet das Dickicht der EU-Fördertöpfe – und listet penibel auf, wie viel EU-Gelder ins Ruhrgebiet fließen und wofür. Das Team um Schwarze-Rodrian wertet dazu unter anderem täglich rund 60 Newsletter mit EU-Bezug aus und informiert die rund 150 EU-Beauftragten und andere mit EU-Fragen befassten Mitarbeiter der 53 Revierkommunen per Direktmailing über aktuelle Entwicklungen und Entscheidungen in Brüssel. In einem eigens für das Ruhrgebiet zusammengestellten Dossier gibt der RVR zudem einen Überblick über sämtliche fürs Revier relevanten 34 EU-Förderprogramme. „Wir wollen keine Expertenblase sein, sondern unser Wissen an die Kommunen weitergeben“, betont Schwarze-Rodrian.
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Außerdem organisiert der Regionalverband Kontakte der Region zur EU-Kommission, etwa in Form der jährlichen Brüssel-Reise der Oberbürgermeister, Landräte und RVR-Spitzen. Arbeitstreffen zu konkreten Themen seien das, betont Schwarze-Rodrian: „Da kommen die Chefs des Ruhrgebiets nach Brüssel und sprechen mit den Fachleuten der EU – und zwar mit einer Stimme.“
Über Jahre hat der RVR nachgehalten, wie viel Geld aus der Union ins Revier floss und fließt. Und wofür die Mittel ausgegeben werden. Das Ergebnis: Das Ruhrgebiet gehört seit Jahrzehnten zu den großen Nutznießern der EU-Förderpolitik. Gelder aus Brüssel haben den Strukturwandel an der Ruhr flankiert, Forschungsprojekte möglich gemacht und mitgeholfen, benachteiligte Stadtquartiere aufzupäppeln.
Bottrops Klima-Großprojekt Innovation City
Europa engagiert sich dabei auf den unterschiedlichsten Gebieten. EU-Gelder flossen in Bottrops Klima-Großprojekt Innovation City genauso wie in eine Skater-Bahn am Kemnader Stausee bei Bochum und Witten. Mittel aus Brüssel unterstützen das Wachstum heimischer Eichenwälder im Kreis Wesel, sie halfen Langzeitarbeitslosen in Dortmund beruflich auf die Beine und fördern den Aufbau eines Zentrums für Wasserforschung an der Universität Duisburg-Essen.
Aus den drei wichtigsten EU-Struktur- und Investitionsfonds EFRE, ESF und ELER flossen nach Berechnungen des RVR allein in der Förderperiode 2007 bis 2013 knapp 1,2 Milliarden Euro ins Revier. Die Hälfte des Geldes stammt direkt aus den Kassen der Europäischen Union, die andere Hälfte bilden die entsprechenden Landesanteile und Eigenanteile der Kommunen. Auch für die derzeit laufende Förderperiode zog der RVR eine Zwischenbilanz. Seit 2014 lösten EU-Projekte hierzulande Investitionen von 523 Millionen Euro aus.
So viel Einwohner wie ein ganzer Mitgliedsstaat
Das Ruhrgebiet profitiert zudem durch Beteiligungen an europaweiten Forschungsverbünden. Zwischen 2007 und 2013 sind laut RVR insgesamt über 600 Projektbeteiligungen aus dem Revier in den Genuss von EU-Forschungsmitteln gekommen.
Umgekehrt ist das Ruhrgebiet selbst ein starkes Stück Europa. Wäre das Revier ein eigener Staat, könnte es im Kreis der 28 EU-Länder allein größenmäßig locker mithalten. An Ruhr, Emscher und Lippe leben rund 5,1 Millionen Menschen, mehr als im EU-Mitgliedsstaat Irland. Im EU-Ranking läge das Revier auf Platz 20, direkt hinter Finnland und der Slowakei.
Bruttoinlandsprodukt von 160 Milliarden Euro
Gemessen an der Wirtschaftskraft würde das Ruhrgebiet sogar auf Rang 17 vorrücken. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 160 Milliarden Euro (Stand 2016) müsste die Ruhr-Wirtschaft den Vergleich mit den Volkswirtschaften ganzer Staaten wie Ungarn oder Portugal nicht scheuen. Laut Regionalverband Ruhr (RVR) trägt das Revier derzeit immerhin 1,1 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Union bei.
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In Zukunft wird sich die Förderpolitik der EU neu ausrichten. Das wahrscheinlichste Szenario: Es gibt deutlich weniger Geld, schon allein wegen des britischen EU-Austritts, aber auch infolge wachsender europäischer Aufgaben etwa in der Grenzsicherung und Verteidigung. Ursprüngliche Pläne, reiche EU-Staaten wie Deutschland deshalb komplett aus der Förderliste zu streichen, sind aber vom Tisch. Wer nun was und wie viel erhält, ist derzeit unklar.
Über den neuen EU-Haushalt wird wohl erst nach der Europawahl entschieden. Michael Schwarze-Rodrian ist freilich optimistisch. Die kommende Förderperiode ab 2021 werde sich programmatisch an den Schwerpunkten Innovation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit orientieren. Darin sieht der EU-Experte eine große Chance: „Das sind genau die Gebiete, auf denen sich das Ruhrgebiet nach dem Abschied von der Kohle zur Modellregion entwickeln kann.“
>>> Info: Historisch die Keimzelle der EU
Historisch gesehen kommt in Europa niemand am Ruhrgebiet vorbei. Die 1950 gegründete Montanunion, Vorläufer von EWG, EG und EU, sollte das deutsche Kohle- und Stahlrevier nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs fest in eine westeuropäische Wirtschaftsgemeinschaft einbinden. Die Keimzelle der Europäischen Union liegt also an der Ruhr.