Düsseldorf . Unmittelbar vor Fertigstellung der Anklageschrift im größten Missbrauchsskandal der NRW-Geschichte wurden neue grausame Details bekannt.

Unmittelbar vor Fertigstellung der Anklageschrift im Fall des massenhaften Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde sind weitere grausame Details bekannt geworden. Wie das „Westfalen-Blatt“ unter Berufung auf einen Bericht der Ermittlungskommission beim Polizeipräsidium Bielefeld vermeldete, sollen auf der Parzelle des Hauptbeschuldigten sogar missbrauchte Minderjährige gezwungen worden sein, ihrerseits schwerste Sexualstraftaten an anderen Kindern vorzunehmen. Aus Polizeikreisen wurde die Darstellung des Blattes am Montag bestätigt.

Laut einem Bericht vom Montagabend wurde gegen den 56 Jahre alten Dauercamper und einen 49-Jährigen aus Niedersachsen inzwischen Anklage am Landgericht Detmold erhoben. Das Gericht werde den beiden Beschuldigten die Anklagen zuleiten und um Stellungnahme bitten, sagte ein Gerichtssprecher.

Danach werde die rund 70-seitige Anklage mit dazugehörigen Haupt- und Fallakten geprüft. Dies werde einige Wochen dauern. Das Material sei umfangreich. Anschließend entscheidet das Gericht, ob die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen wird. Damit erreicht der schwerste Missbrauchsfall in der nordrhein-westfälischen Kriminalgeschichte die nächste Verfahrensstufe.

Erste Anklagen noch in dieser Woche

Als Hauptbeschuldigter gilt der 56-jährige Andreas V., ein arbeitsloser Dauercamper, der mit seiner heute achtjährigen Pflegetochter einen vermüllten Wohnwagen bewohnte. Zusammen mit dem 33-jährigen Campingplatz-Komplizen Mario S. aus Steinheim soll V. die Kinder missbraucht und vergewaltigt haben. Mit Hilfe eines 48-jährigen Auftraggebers sollen im großen Stil kinderpornografische Aufnahmen produziert und verbreitet worden sein. Alle drei Männer sitzen in Untersuchungshaft.

Eine besondere Aufbauorganisation (BAO) beim Polizeipräsidium Bielefeld mit zwischenzeitlich rund 80 Spezialisten musste insgesamt fast 3,3 Millionen sichergestellte Bilder und mehr als 86.000 Videos untersuchen. Die Behörden ermitteln neben den drei mutmaßlichen Haupttätern auch gegen fünf weitere Beschuldigte, die Kinder „zugeführt“ oder sich an den Missbrauchstaten beteiligt haben sollen. Wie zuletzt bekannt wurde, zählt dazu auch ein 21-Jähriger, der des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie des Besitzes kinderpornografischer Schriften beschuldigt wird. Er ist laut Landtagsvorlage „geistig eingeschränkt“ und möglicherweise zuvor selbst Missbrauchsopfer geworden.

„Unvorstellbar, dass niemand etwas gemerkt hat“

Im Laufe der Ermittlungen wurde schnell klar, dass die anfängliche Zeugen-Beschreibung des Campingplatzes „Eichwald“ als ostwestfälisches Idyll mit dem alleinerziehenden Andreas V. als kreativem Kinder-Animateur nie der Realität entsprochen haben kann. Erste Missbrauchstaten soll der Hauptbeschuldigte bereits in den 90er Jahren begangen haben. „Es ist unfassbar, was sich in Lügde in den letzten 30 Jahren zugetragen hat“, zitiert die „Neue Westfälische“ Opfer-Anwalt Peter Wüller. Es sei unvorstellbar, dass niemand auf dem Campingplatz etwas mitbekommen haben will von den massenhaften Straftaten.

Politisch hat der Fall Lügde NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) gehörig unter Druck gebracht. Die SPD-Opposition im Landtag fordert seit Wochen seinen Rücktritt. Reul wird vorgeworfen, die Ermittlungen zu lange der überforderten Kreispolizeibehörde Lippe überlassen zu haben. Schon am 11. Januar 2019 waren Landeskriminalamt und Innenministerium darüber informiert worden, dass von „möglicherweise 30 und mehr Kindern und jugendlichen Opfern“ auszugehen sei. Reul hatte jedoch erst am 31. Januar der überforderten Kreispolizei nach mehreren Pannen die Ermittlungen entzogen und sie dem Präsidium in Bielefeld übertragen. Zwischenzeitlich waren 155 CDs und DVDs aus einem Auswerteraum der Polizei in Detmold verschwunden, von denen bis heute jede Spur fehlt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Diebstahls gegen unbekannt.

Auch Polizei und Jugendämter im Fokus

Für zweifelhafte Schlagzeilen sorgte ein Abbruchunternehmer aus Niedersachsen, der nach der Tatort-Freigabe mit dem Abriss des Wohnwagens von Andreas V. beauftragt war. Der Mann will nachträglich im Schutt weitere Datenträger gefunden haben und ließ sich bereitwillig von einem Kamerateam begleiten. Ein Kronzeuge für schlampige Polizei-Arbeit? Später wurden Hinweise auf eine gewisse Nähe des Mannes zur „Reichsbürger“-Szene öffentlich, die Staatsorgane der Bundesrepublik nicht anerkennt.

Die Behörden ermitteln im Komplex „Lügde“ auch, inwieweit zwei Polizeibeamten und sieben Jugendamtsmitarbeitern aus Lippe und Hameln Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Offenbar wurden frühe Hinweise auf Missbrauch nicht konsequent verfolgt. Die niedersächsische Jugendhilfe muss überdies erklären, wie man überhaupt ein Pflegekind bei Andreas V. unterbringen konnte. Es seien „einige schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen worden“, sagte NRW-Familienministerin Joachim Stamp (FDP). Oder wie Innenminister Reul es formulierte: „Selbst meine Omma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt.“