Essen/Gelsenkirchen. . Einst als „sozialistische Einheitsschule“ verunglimpft, wurde die Gesamtschule ein Erfolgsmodell. 1969 gingen die ersten Schulen in Betrieb.
Wenn Ahmed Kutucu über den Schulhof der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen schlendert, zieht er jedes Mal eine Traube von Schülern hinter sich her. Der 19-Jährige ist ihr Held, ihr Vorbild – ein Star. Denn Kutucu hat geschafft, wovon viele hier träumen: Fußballprofi zu werden bei Schalke 04.
Wenn die Schüler aus den Fenstern ihrer Klassenzimmer schauen, haben sie ihr Sehnsuchtsziel direkt vor Augen, denn der flache Schulbau liegt im Schatten der großen Veltins-Arena. Kutucu ist ein Eigengewächs des Vereins und der Stadt. Hier wurde er geboren, hier geht er zur Schule, seit der U12 spielt er für Schalke und sein Vater arbeitete 33 Jahre lang als Bergmann.
Özil, Neuer, Draxler und Sané gingen hier zur Schule
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Der 19-Jährige hatte selbst viele Vorbilder: 23 Schüler haben es bislang in den Profikader des Traditionsvereins geschafft, darunter Manuel Neuer, Mesut Özil, Benedikt Höwedes, Julian Draxler, Max Meyer und Leroy Sané. Sie alle wurden nicht als Weltstars eingeschult. Erst an der Gesamtschule Berger Feld wurde ihr Talent erkannt und gefördert.
Damit sind die Fußballer ein gutes Beispiel dafür, was sich die Gesamtschulen insgesamt auf die Fahne geschrieben haben: Auch jene zu fördern und zur Spitze zu bringen, denen Erfolg und Aufstieg nicht in die Wiege gelegt wurde. Studien belegen, dass viele Schüler es weiter schafften, als es ihnen die Grundschullehrer zunächst zutrauten. Rund 43 Prozent aller Gesamtschüler erreichen rechnerisch die gymnasiale Oberstufe. Und 70 Prozent der Abiturienten an Gesamtschulen hatten keine Gymnasialempfehlung.
Die „Bildungskatastrophe“ schreckte Deutschland auf
Die Gesamtschule Berger Feld ging im August 1969 in Betrieb. Sie gehörte zu den ersten sieben Schulen des „gemeinsamen Lernens“, die im Rahmen eines Schulversuchs 1969 gegründet wurden. Die weiteren Gründerschulen waren die Gesamtschulen Osterfeld in Oberhausen, Scharnhorst in Dortmund sowie im sauerländischen Kierspe, in Fröndenberg, Kamen und Münster. Vorangegangen war eine heftige bildungspolitische Debatte um fehlenden Nachwuchs für die Wirtschaftswunder-Republik sowie ein Streit um ungleiche Bildungschancen.
„Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Statistik am untersten Ende der europäischen Länder“, lautete der dramatische Befund vor 50 Jahren. Das düstere Szenario einer „Bildungskatastrophe“ erschreckte die Öffentlichkeit. Junge Wissenschaftler würden zu Tausenden das Land verlassen, der Wirtschaft fehlten die nötigen Fachkräfte, es gebe nicht genug qualifizierten Nachwuchs. „Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht.“
Was sich heute liest wie ein Kommentar zur jüngsten Pisa-Studie ist ein Text aus dem Jahr 1964, Autor war der Theologe und Pädagoge Georg Picht. „Die Bildungskatastrophe“ lautete der Titel der Anklageschrift und markierte den Beginn eines beispiellosen Aufbruchs. Wachgerüttelt von Picht und den vergleichenden Untersuchungen der OECD wird der Nation klar, wo ihre Schulen stehen: ganz weit unten.
Ziel: Chancengleichheit für alle
Eine bildungspolitische Aufbruchstimmung erfasste Politik und Gesellschaft. 1969 empfahl der Deutsche Bildungsrat – ein Gremium von Professoren, Politikern, Gewerkschaften und Kirchen – Versuche mit Gesamtschulen zu starten. In dem Vorwort zu den Empfehlungen schrieb der Rat, warum die Gesamtschule das Gebot der Zeit sei und was sie leisten solle: „Chancengleichheit für alle; Förderung des einzelnen gemäß Neigungen und Fähigkeiten; Vermeidung verfrühter Schullaufbahnentscheidungen und deren ständige Korrigierbarkeit; ein breites, der Vielfalt der Begabungen und den Erfordernissen der Gesellschaft angemessenes Fächerangebot.“ Diese Grundsätze klingen bis heute aktuell.
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Die Kultusminister der Länder – auch der CDU- und CSU-regierten – nahmen den Ball auf. Noch im selben Jahr beschlossen sie ein „Experimental-Programm mit Gesamtschulen“. In NRW sollten insgesamt 32 Schulen entstehen. Der Grundgedanke der Reformer zielte auf den Abschied vom Prinzip der Auslese zugunsten individueller Förderung der Schüler. Das hieß, Haupt- und Realschule sowie das Gymnasium sollten mindestens bis zur zehnten Klasse zu einer integrierten Gesamtschule verschmolzen werden.
Gesamtschule sollte dreigliedriges System ablösen
„Die ursprüngliche Idee war, dass die neue Schule das dreigliedrige System nicht ergänzen sondern ersetzen sollte“, erinnert sich der Dortmunder Bildungswissenschaftler Ernst Rösner. „Der Modellversuch sollte erproben, in welcher Form dies am besten gelingen kann. Aber niemand traute sich damals, die Gymnasien zugunsten der Gesamtschule abzuschaffen. Dabei bleib es bis heute“, sagt Rösner.
Streit und Debatten begleitete die Gesamtschule seit ihrer Gründung. Die SPD machte in den 70er-Jahren die Schule zum Kern ihrer Bildungspolitik. Im Anschluss gab es einen regelrechten „Schulkampf“ zwischen SPD und CDU. Höhepunkt des Konflikts war 1978 der Versuch der SPD/FDP-Landesregierung in NRW, die Gesamtschule als Verbesserung lokaler Schulangebote einzuführen. Die Kernelemente der „Kooperativen Schule“ waren gemeinsamer Unterricht in den Jahrgangsstufen 5 und 6 sowie die Vollständigkeit des weiterführenden Schulwesens als Einheit.
Volksbegehren kippt geplantes Schulgesetz
Die Initiative „Stop Koop“, angeführt von der Landeselternschaft der Gymnasien und dem Philologenverband, sammelte in wenigen Wochen 3,6 Millionen Unterschriften. Das Volksbegehren brachte schließlich das geplante Schulgesetz zu Fall. „Der damalige CDU-Landeschef Kurt Biedenkopf sagte: Wenn wir eine solche Schule zulassen, erziehen wir Kinder, die ihren Eltern die Rente nicht zahlen können“, erinnert sich Rösner an die aufgeheizte Stimmung jener Tage.
Dann gewann Johannes Rau (SPD) die Landtagswahl, er entließ die 32 Gesamtschulen 1982 aus dem Versuchsstadium und machte sie zu Regelschulen. Doch es blieb beim dreigliedrigen Schulsystem – die SPD fasste das heiße Eisen nicht mehr an.
Doch die Schulform setzte sich nach und nach durch, heute gibt es 340 Gesamtschulen in NRW – Tendenz steigend . Die Übergangsquoten von der Grundschule lagen zuletzt bei knapp 28 Prozent. Die ideologische Debatte hat sich abgekühlt. „Die Vorbehalte gegen die Gesamtschule sind verschwunden“, sagt Rösner, „auch bei der CDU.“ Denn nur mit dieser Schulform lässt sich auch in ländlichen Gebieten eine wohnortnahe Versorgung gewährleisten. Haupt- und Realschulen seien für Eltern nicht mehr attraktiv, da ihnen die Abitur-Option fehlt. „Die Gesamtschule hat Zukunft“, sagt er.
Das glaubt auch Maike Selter-Beer, Leiterin der Gesamtschule Berger Feld: „Wir sind wichtig für den Stadtteil und haben jedes Jahr mehr Anmeldungen als Plätze“, sagt die engagierte Pädagogin. Doch bei aller Liebe für den Fußball – Bildung gehe vor, sagt sie und blickt in Richtung Arena. „Wenn die Noten nicht stimmen, wird das Training gestrichen.“
>>>> Die USA wollten nach dem Krieg ein Gesamtschulsystem für Deutschland
Deutschland sollte demokratisch werden. Das war das Ziel der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Daher sollte das Schulwesen neu aufgestellt werden. US-Bildungsexperten kritisierten, dass Kinder bereits nach vier Jahren auf verschiedene Schultypen aufgeteilt wurden. Das führe bei einer kleinen Gruppe zu einem Elitestatus und bei der Mehrheit aber zu Minderwertigkeitsgefühlen. Darin sahen sie einen der Gründe für die Anfälligkeit der Deutschen für die NS-Ideologie.
1947 verordnete der Alliierte Kontrollrat auf amerikanische Initiative den Deutschen ein Gesamtschulsystem. Mit ihrem hinhaltenden Widerstand, angeführt von der katholischen Kirche als Trägerin zahlreicher privater Gymnasien, vereitelten deutsche Bildungspolitiker letztlich den Plan.