Essen. . Ein Drittel der Kassenkredite in deutschen Städten konzentriert sich an der Ruhr. Experten fordern von Bund und Land eine Entschuldungsstrategie.

Schuldenberg und Jammertal liegen dicht beieinander, lautet ein beliebtes Bonmot. Gemessen an seiner Finanzausstattung wäre das Ruhrgebiet demnach eine Region für Extrem-Bergsteiger. Nirgendwo sonst in der Republik stehen Städte vor so hohen Kreditbergen, nirgendwo sonst blicken Bürgermeister und ihre Kämmerer in derart abgrundtiefe Haushaltslöcher.

Fast 15 Milliarden Euro an Kassenkrediten haben sich in den Städten und Gemeinden des Reviers im Laufe der letzten Jahre aufgetürmt. Ein Drittel aller Kommunal-Dispos in deutschen Städten und Gemeinden konzentriert sich damit an der Ruhr. Experten wie der Kommunalfinanzwissenschaftler Martin Junkernheinrich sprechen längst von einer tickenden Zeitbombe für die ohnehin nicht auf Rosen gebetteten Rathaus-Etats der Region.

Städte können Schuldenberge nicht abtragen

ONLINE VERSION Liquiditaetskredite der Kommunen
ONLINE VERSION Liquiditaetskredite der Kommunen © Miriam Fischer

Die Zahlen sind so hoch, dass die betroffenen Städte ihre Schuldenberge aus eigener Kraft kaum mehr abtragen können, ist sich der Professor der TU Kaiserslautern sicher. „Es würde dauerhafte Haushaltsüberschüsse in einer Höhe erfordern, die auch bei verschärften Sparbemühungen nicht erzielbar wären und von den Bürgern wohl kaum mitgetragen würden“, meint Junkernheinrich. Auch der Verkauf städtischen Tafelsilbers zur Schuldentilgung wie jetzt im Fall des Hattinger Kanalnetzes gilt in Fachkreisen als nur bedingt auf andere Kommunen übertragbar.

Lange wurde das Problem verdrängt. In Niedrigzins-Zeiten fallen kommunale Schulden kaum ins Gewicht, selbst wenn sie im Falle der ursprünglich nur für laufende Ausgaben gedachten Kassenkredite nicht einmal durch Investitionen etwa in Betongold abgesichert sind. Denn obwohl die Kassenkredite der Kommunen im Prinzip wie private Dispo-Kredite funktionieren, verlangen Banken von öffentlichen Körperschaften deutlich niedrigere Überziehungszinsen. Geborgtes Geld kostet Städte derzeit also fast nichts.

Die Furcht vor dem Zinsrisiko steigt

Doch die Zeichen mehren sich, dass die Zeiten billiger Schulden demnächst vorbei sind. Die Gefahr: Steigen die Zinsen nur um einen Prozentpunkt, würde sich die jährliche Zinslast mancherorts verdoppeln. In Städten wie Dortmund oder Oberhausen wäre das ohne drastische Sparmaßnahmen nicht zu stemmen. Der von fast allen Revierkommunen mühsam vom Munde abgesparte Haushaltsausgleich wäre im Nu wieder dahin.

Die Furcht vor dem Zinsrisiko treibt die Stadtverantwortlichen derzeit mehr und mehr um. „Mit den derzeitigen Zinsbelastungen kommen wir klar, nicht aber mit steigenden Zinsen“, erklärte Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann jüngst vor Journalisten. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) widmete dem Thema Altschulden in der vergangenen Wochen einen eigenen Kongress in Gelsenkirchen. DGB-Landeschefin Anja Weber warnte dort: „Trotz guter Wirtschaftsdaten steigt die Armut im Ruhrgebiet.“ Die Finanzkraft der Revierstädte müsse daher dringend gestärkt werden. Weber: „Wir brauchen Lösungen, die dem Ausmaß des Problems gerecht werden.“ Was Weber meint: Ohne Hilfe von Land und Bund geht es nicht.

Sonderfall „Hessenkasse“

Finanzexperte Junkernheinrich verwies in Gelsenkirchen auf das Modell „Hessenkasse“. Als erstes Bundesland hat Hessen ein Programm für die Entschuldung seiner Kommunen eingeführt. Dabei übernimmt das Land die Hälfte aller kommunalen Kassenkredite. Die Städte tragen über höchstens 30 Jahre mit einem einheitlichen Festbetrag von 25 Euro pro Einwohner zur Tilgung bei. Die Restschulden übernimmt dann wiederum das Land.

Doch die „Hessenkasse“ ist kaum auf das Ruhrgebiet übertragbar. Beispiel Oberhausen: Die Stadt müsste mehr als das Zwölffache der hessischen Pro-Kopf-Summe aufbringen – und stünde nach 30 Jahren noch immer mit einem hohen Schuldenberg da. Duisburg wäre fünfmal, Gelsenkirchen viermal so hoch belastet wie die Kommunen im Nachbarbundesland. Ohne Bundesbeteiligung sei eine Entschuldung der Kommunen im Revier kaum denkbar, so Junkernheinrich.

Bundeshilfe wie beim Küstenschutz?

Um Bundeshilfen für einzelne Regionen rechtlich zu ermöglichen und Eifersüchteleien in der Städtefamilie zu unterbinden, schlägt der Finanzwissenschaftler die Einsetzung einer sogenannten Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern vor. So etwas werde etwa zur Finanzierung des Küstenschutzes an Nord- und Ostsee-Städten bereits praktiziert. Einem solchen Modell zustimmen müssten aber in jedem Fall die Mehrheit der Bundesländer.

DGB-NRW-Chefin Anja Weber will das Thema Altschulden zudem stärker in der Ruhrkonferenz der Landesregierung platzieren. „Die Entschuldung der Städte ist von einer Randnotiz zu einem Forum geworden“, sagte Weber dieser Zeitung. Die DGB-Chefin bildet zusammen mit dem für die Konferenz zuständigen Landesminister Stephan Holthoff-Pförtner (CDU), Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff den Beirat des Gremiums. Die Landesregierung sieht Weber in der Pflicht, sich beim Bund für die Sorgen der betroffenen Städte stark zu machen.