Ruhrgebiet. . Nach dem Missbrauch von Lüdge wird Kritik an Jugendämtern laut. Eine Sozialarbeiterin erzählt, wie die Behörden versuchen, Fehler zu vermeiden.
Misshandelt und getötet: In den vergangenen Wochen erschütterten Fälle wie der massenhafte Missbrauch von Kindern in Lügde sowie die drei misshandelten und getöteten Babys aus Gelsenkirchen NRW und das ganze Land. Den Jugendämtern waren die Familien bekannt – auch deshalb treten sie bei der Suche nach einem Warum in den Mittelpunkt.
Unter welchen Bedingungen arbeiten die Sozialen Dienste der Jugendämter? Wie kommen sie an Problemfamilien heran und wie schützen sie das Kindswohl? Eine Sozialarbeiterin aus dem Ruhrgebiet berichtet - anonym - von ihren Erfahrungen, ihrem Arbeitsalltag und den Eltern, mit denen sie zu tun hat. Protokolliert hat das Gespräch Stephanie Weltmann. Der Name der Frau ist der Redaktion bekannt.
Sozialarbeiterin: Kindeswohl ist keine soziale Frage
„Ich arbeite seit über 20 Jahren im Jugendamt einer Ruhrgebietsstadt. Wie viele Kinder und Familien ich bisher betreut habe, kann ich nicht sagen. Man kennt irgendwann ganze Dynastien, manche Akten umfassen zehn Bände von den Großeltern bis zu den Kindern.
Nach Fällen wie dem Missbrauch in Lügde oder den toten Babys aus Gelsenkirchen stehen wir Jugendämter immer schnell in der Kritik. Wie konnte man die Anzeichen nicht sehen, wenn eine Familie doch betreut wurde? Wieso wurden die Kinder nicht in Obhut genommen? Viele wissen nicht, wie wir arbeiten, deshalb will ich davon erzählen.
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Vorab: Kindeswohl ist nicht unbedingt eine soziale Frage. In der Stadt, in der ich arbeite, sind die Fallzahlen in allen Bezirken seit Mitte der 90er-Jahre stark angestiegen – um das Vier- bis Fünffache. Die Teams der Jugendämter sind lange nicht stark genug nachgerüstet worden, stattdessen: viele Personalwechsel und zu viele Fälle.
Zugleich steigen die Kosten für Maßnahmen der erzieherischen Jugendhilfe seit Jahren. Das hängt miteinander zusammen: Jeder Mitarbeiter hat das Wächteramt des Jugendamtes durchzuführen, somit haftet er auch privat für die Maßnahmen, die er für ein Kind zur Sicherung des Kindeswohls ergreift. Je mehr Fälle er zu bearbeiten hat, desto mehr möchte er sich gegen Fehler absichern. Also beauftragt er Träger mit immer neuen Maßnahmen, um ein Kind zu betreuen. Das kostet viel Geld.
Familien werden über Jahre begleitet
Einen Großteil unserer Arbeit macht aus, was wir prozesshaftes Begleiten nennen: Wir betreuen Familien und Kinder über viele Jahre. Das fängt in der Regel mit niederschwelliger Hilfe an. Die Jugendämter besuchen alle Neugeborenen, es gibt Familienhebammen, die Familien mit vielen Problemlagen länger als üblich begleiten. Manche Eltern lernen wir bei Beratungen kennen, manche über Hinweise von außen.
Es gibt immer ein erstes Gespräch, bei dem wir mit den Eltern gemeinsam ihre Situation besprechen, ihren Wunsch und Willen klären und Lösungen überlegen, das kann von ambulanten Helfern bis zu Pflegefamilien oder auch Heimunterbringungen für Kinder und Jugendliche gehen. Das zweite Gespräch nach Einleitung einer Maßnahme findet nach acht Wochen statt, das nächste in einem halben Jahr; bei Krisen öfter.
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Dazwischen besuchen freie Träger, Wohlfahrtsverbände etwa, in dem im Hilfeplangespräch festgelegten Auftrag die Familien. Die Kontakte können mehrfach wöchentlich oder monatlich sein, je nach Fall. Auch Pflegefamilien und die dort lebenden Kinder werden besucht und in den pädagogischen Fragen und Entwicklungen beraten und begleitet, wie wahrscheinlich auch in Lügde.
Alles wird dokumentiert – auch zum eigenen Schutz
Alles, was wir besprechen und an Maßnahmen in die Wege leiten, dokumentieren wir. Das ist aufwendig und zeitraubend, aber wichtig: Wir haften dafür, wenn falsche Hilfen ergriffen wurden oder man zu früh reagiert hat. Wir können nicht aus dem Bauch heraus irgendwas veranlassen, wir müssen das begründen, notfalls vor dem Familiengericht. Und das ist die Schwierigkeit.
Als Jugendamtsmitarbeiter sieht man die fortlaufende Entwicklung eines Falles und die Tendenz dahinter. Manchmal weiß man genau, ob aus Berufserfahrung oder Intuition, dass in einer Familie etwas nicht stimmt, man kann das aber nicht beweisen, weil man an die Familie nicht herankommt oder keine Einsicht in die tatsächlichen Ereignisse erhält. Aus dem Umfeld dürfen wir niemanden einfach so befragen, zumindest nicht offiziell. Ich frage mich, ob jemand in Lügde gesagt hat: „Ich habe ein schlechtes Gefühl, ich kann es nur nicht belegen.“
„Wir können die Eltern nicht entmündigen“
Wenn wir von Nachbarn, Ärzten oder der Schule Hinweise auf Kindeswohlgefährdung bekommen, auf Vernachlässigung, Verwahrlosung oder Misshandlungen, müssen wir sofort reagieren. Das heißt aber nicht, draufloszustürmen und in wilden Aktionismus verfallen. Wir berufen unser Fachteam ein, drei bis vier Sozialarbeiter, die alle Informationen zu einem Fall besprechen und sich eine Strategie für den Hausbesuch überlegen.
Unser Auftrag ist bei Kindeswohlgefährdung , ein Kind in Augenschein zu nehmen und mit ihm zu sprechen – das geht meist nur, wenn die Eltern zustimmen und uns in die Wohnung lassen. Das müssen die Eltern aber erst einmal nicht tun, deshalb ist es wichtig, sich einen Plan zurechtzulegen. Nur wenn ich Gefahr im Verzug sehe, kann ich die Polizei einschalten, die dann das Jugendamt zur Durchführung seiner Amtspflichten begleitet.
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Wir als Jugendamt haben als erstes die Aufgabe, das Wohl der Kinder zu verfolgen. Aber wir können die Eltern nicht völlig entmündigen. Das Elternrecht ist in Deutschland in den vergangenen Jahren immer wieder gestärkt worden. Heißt: Ich darf ein verwahrlostes, missbrauchtes, gefährdetes Kind zum Schutz in Obhut nehmen, kurzfristig auch ohne das Einverständnis der Sorgeberechtigten. Wenn diese das trotz Erörterung mit dem Jugendamt nicht wollen, muss ich das Familiengericht einschalten, allein kann ich das auf Dauer nicht entscheiden.
Der Hundekot thronte auf dem Wäscheberg
Wir hatten vor Jahren mal den Fall einer Jugendlichen, die mit ihrer Mutter in einer völlig verdreckten Wohnung gelebt hat. Vor der Waschmaschine stapelte sich der Wäscheberg und obendrauf thronten die Häufchen des Dackels. Wäre das Mädchen jünger gewesen, hätten wir es aus dieser Wohnung sofort nehmen müssen. Weil sie bereits 15 oder 16 Jahre alt war, haben wir uns mit der Mutter und ihr darauf geeinigt, dass die Wohnung gesäubert wird. Zwei Tage später sah es aber immer noch so aus. Erst dann haben wir das Kind zum Vater gebracht, Kontakte zu der Mutter organisiert und sogar für den Haushalt eine ambulante Hilfe besorgt. Die Familie haben wir noch lange pädagogisch betreut. Auch das gehört zu unserer Arbeit: Die Familie ist per Grundgesetz geschützt.
Es gibt Eltern, die partout nicht mit uns arbeiten wollen, die uns auch bedrohen. Am nettesten ist es noch, wenn man mit Dienstaufsichtsbeschwerden überschüttet wird. Es kommt aber auch vor, dass uns mit Gewalt gedroht wird: „Nimmst du mir das Kind, geht es dir an die Kehle.“
Anderseits gibt es immer mehr Eltern, die von sich aus um Hilfe bitten. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, früher hat man mehr mit den Eltern gekämpft, heute setzen sie dir das pubertierende Kind auf den Tisch und wollen, dass das Jugendamt den Jugendlichen repariert, damit er wieder funktioniert. Eigene Anteile werden nicht gesehen. Ich finde, bei allen Hilfen muss man Eltern auch an ihre Fürsorgepflicht erinnern.
„Das Jugendamt soll es am Ende oft richten“
Die Verantwortung für die Kinder nimmt man mit nach Hause. Es gab mal eine Kollegin, deren Mann sagte: Ich will nicht, dass du da arbeitest, das wird deine Persönlichkeit verändern. So ist das bestimmt. Wir sehen manchmal die Spitzen des Grauens, Kinder, die so wenig Zuneigung erfahren, dass sie aggressiv geworden sind.
Familien so lange zu begleiten, ohne dass diese sich positiv entwickeln macht auch mürbe. Manchmal muss man Hilfsmaßnahmen mehrfach ansetzen und fragt sich, warum verstehen die das nicht, manchmal ist gar nicht zu erkennen, welche nachhaltigen Effekte und Folgen unsere Hilfen überhaupt haben. Das ist wie ein Fass ohne Boden. Gerade junge Kräfte, die oft frohen Mutes starten, können darüber krank werden.
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Auch gerade wenn die Forderungen von außen kommen, die sagen, da muss doch was passieren, da muss doch geholfen werden – verschiedene Stellen haben verschiedene Meinungen und wenn nichts mehr geht, soll es das Jugendamt richten. Aber man muss auch sehen – die Eltern sind in ihrer Verpflichtung und Verantwortung zu stärken, dies kann und darf nicht ersetzt werden, nur in Extremsituationen.
„Jugendämter müssen entlastet werden“
Was in Lügde oder Gelsenkirchen falsch gelaufen ist, will ich nicht beurteilen. Ich glaube aber, ein Teil dieser Fälle ist nicht zu verhindern. Es wird immer Fälle geben, da wird man trotz Babyklappe, trotz Hilfsnetzwerk, trotz Betreuung in die Abgründe der Menschen schauen müssen. Unsere Aufgabe als Jugendamt ist, dem so gut wie möglich vorzubeugen.
Dafür müssen die Fallzahlen in den Ämtern gesenkt werden. Wir brauchen Zeit, um Bedarfe erkennen zu können, es gibt kein allgemeines Rezept für Hilfen. Wunsch und Wille der Familien müssen berücksichtigt werden, genauso wie Hilfen individuell durchzuführen sind – so wie es möglich und so wie es nötig ist. Nicht mehr und nicht weniger. Auch halte ich es für schwierig, dass ein Jugendamt nicht einfach so mit anderen Jugendämtern sprechen darf, wenn Familien umziehen. Jedenfalls nicht offiziell oder nur, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Auch Kooperationen zwischen Polizei, Kinderärzten, Gericht und Jugendamt müssen besser werden.
Appell: Ohne die Gesellschaft funktioniert die Hilfe nicht
Letztlich funktioniert unsere Arbeit aber nicht ohne die Gesellschaft: Alle müssen hinschauen. Dazu muss man auch unangenehme Gedanken zulassen. Auch eine Mutter kann Täter sein, auch der so nette Nachbar. Bei Missbrauchsfällen haben die Kinder oft mehrfach versucht, sich jemandem mitzuteilen, sind aber nicht verstanden worden.“