Witten. . Kinder bewegen sich seltener und sind häufiger zu dick. Experten fordern, den Schulsport zu stärken. Die Hüllbergschule in Witten hat das gemacht.

Sportunterricht an der Hüllbergschule in Witten geht so: Auf den Pfiff von Lehrerin Ilka Ophoves hin klettern ein Dutzend Grundschüler laut rufend über Kästen, Türme und Matten, die zu einem gut 15 Meter langen Hindernis-Parcours in der Turnhalle aufgebaut sind. Es wird gerannt und gequietscht, gekeucht und sich geduckt. Dutzende Softbälle, mit denen Mitschüler die Hindernisläufer abzuwerfen und Punkte für ihr Team zu gewinnen versuchen, vervollständigen den Eindruck eines Wimmelbildes. Und was ist daran Sportunterricht? Lehrerin Ophoves lächelt. „Wir wollen, dass die Kinder Bewegung erleben. Das geht auch spielerisch.“

etwa jedes siebte Kind gilt als zu dick

Freie Bewegung und Sport, das ist für viele Kinder in Zeiten von Videospiel, Handy und übervorsichtigen Eltern längst kein Alltag mehr. Laut Robert-Koch-Institut kommt nur noch ein Viertel der unter 18-Jährigen in Deutschland auf mindestens 60 Minuten Bewegung am Tag. Die Koordination und Ausdauer von Kindern leidet, jedes siebte Kind gilt als zu dick.

Ilka Ophoves (40) ist eine der sechs qualifizierten Sportlehrerinnen an der Hüllbergschule in Witten.
Ilka Ophoves (40) ist eine der sechs qualifizierten Sportlehrerinnen an der Hüllbergschule in Witten. © Lars Heidrich

Was heißt das für den Schulsport? Wie muss er sich ändern, um ungelenke Kinder zu motivieren? Die Hüllbergschule im Wittener Osten mit 220 Kindern und einem Kollegium von 17 Lehrkräften hat darauf eine Antwort gefunden – über Umwege.

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Am Anfang habe nicht der Sport gestanden, sagt Leiterin Maria Nehm. „Als ich vor 20 Jahren herkam, war ich über den rauen Ton auf dem Schulhof überrascht.“ Aggressionen und Schlägereien habe es gegeben. Die 60-jährige Theologin versuchte es mit Stillübungen. Vergeblich. „Dann haben wir das Gegenteil probiert: Bewegung.“

Ringen und freie Bewegungsstunden

Mit Unterstützung der Universität Dortmund stellte die Schule ihr Sportangebot auf den Kopf: Statt der laut Lehrplan vorgesehenen drei wöchentlichen Sportstunden wurde die tägliche Stunde eingerichtet. Dafür entfallen einzelne Förderstunden. Die Grundschule umwarb gezielt an Uni oder in Fortbildungen qualifizierte Sportlehrerinnen, baute ihre Infrastruktur mit Kletterwand und neuen Geräten aus und mischte den konventionellen Lehrplan und die Nachmittagsbetreuung mit abwechslungsreichen Sportarten wie Ringen oder freien Bewegungsstunden zum Ausprobieren auf.

Schulleiterin Maria Nehm (60).
Schulleiterin Maria Nehm (60). © Lars Heidrich

Hinzu kommt ein Sport-Benotungssystem, in das mündliche Mitarbeit, soziale Kompetenz und Engagement einfließen. So erhielten auch unsportlichere Kinder Chancen auf eine gute Note, erklärt Nehm.

Mehr erklären, auch im Sportunterricht

Und langsam änderte sich noch etwas: Es werde heute mehr in der Sportstunde gesprochen, sagt Ilka Ophoves. „In der Eingangsklasse habe ich Kinder, die beim Fangenspiel gegeneinander rennen, weil sie nicht gelernt haben, sich umzuschauen“, so die 40-Jährige. Den Kindern nicht zu sagen, wo der Fehler liegt, sondern sie zu fragen, sei wichtiger geworden.

Sportwissenschaftler und Lehrer sehen an dem Beispiel, welche Chancen Sport an Grundschulen biete. Der Präsident des Schulsportlehrerverbandes NRW, Michael Fahlenbock, bemerkt, dass die Kluft zwischen sehr sportlichen Kindern und denen, die unbeweglich sind, immer größer werde. „Das ist die riesige Herausforderung der Schulen, allen Kindern mit immer vielfältigeren Anforderungen gerecht zu werden.“ Problematisch sei da, dass Sport in „ganz extremem Maße“ ausfalle und qualifizierte Sportlehrer an Grundschulen fehlten.

Sport konkurriert mit anderer Unterhaltung

Der Kölner Sportwissenschaftler Ingo Frobösegeht noch weiter: Er fordert für jede Sportstunde zwei Lehrer. „Die Kinder haben heute so unterschiedliche Hintergründe, um dem gerecht zu werden, braucht man mehr als eine Lehrkraft.“ Nötig sei eine inhaltliche Reform. „Heute muss viel mehr über Spaß und Erlebnis gehen, um die Kinder zu motivieren.“ Sport konkurriere mit anderen Unterhaltsangeboten. Grundschulen sollten mehr Vereine einbinden, um Abwechslung zu bieten.

Leroy besucht die Wittener Hüllbergschule.
Leroy besucht die Wittener Hüllbergschule. © Lars Heidrich

Der Wittener Grundschüler Leroy mag die Abwechslung. Beim Aufzählen all seiner Schulsport-AGs kommt man kaum hinterher. Fußball, Handball, Basketball... warum all das? „Macht mir Spaß“, sagt der Neunjährige. Besonders, weil auf faires Spiel geachtet werde. „Wir sprechen über Regeln und entscheiden mit.“ Dadurch werde weniger gestritten und jeder habe die Chance, zu gewinnen.

>> Drei Tipps für Eltern

Damit Kinder Spaß an Bewegung bekommen, rät der Kölner Sportwissenschaftler Ingo Froböse Eltern: „Erstens muss das Kind und nicht Papa oder Mama die Sportart auswählen“, so Froböse. Kinder sollten zudem verschiedene Sportarten ausprobieren und wechseln können. „Das Kind zwanghaft in einem Verein zu belassen, hilft nicht. Gerade in jungen Jahren geht es nicht ums Trainieren, sondern ums Erleben und Erfahren von Bewegung.“ Nicht zuletzt gelte: „Eltern müssen ihrem Kind Vorbild sein.“