Essen. Politisiert, heiß diskutiert, fallen gelassen. Jugendgewalt wurde durch den U-Bahn-Überfall in München zum Gesprächs- und Wahlkampfthema. Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik fordert eine neue Debatte über das Thema - jenseits von Roland Koch, Bildzeitung und Sibirien.

"Ab nach Sibirien? Wie gefährlich ist unsere Jugend?", so heißt das neue Buch von Professor Dr. Micha Brumlik. In seinem Beitrag, aber auch in Texten der anderen Gastautoren werden Politiker und Medien kritisiert sowie der Jugendstrafvollzug und das Verhalten türkischer Kinder unter die Lupe genommen. DerWesten sprach mit Brumlik.

Nach dem brutalen U-Bahn-Attentat im Dezember 2007 wurde viel über Jugendgewalt diskutiert. Warum brauchen wir jetzt noch ein Buch über das Thema?

Micha Brumlik: Wir brauchen jetzt ein Buch, weil die Diskussion nicht ausgereicht hat. Weil es wirklich nötig ist, dass das, was wir wissenschaftlich über die Ursachen der Gewalt und ihre mögliche Einschränkung wissen, präsentiert wird. Damit nicht noch einmal, wie beim hessischen Wahlkampf, dieses Thema dazu benutzt wird, in demagogischer Weise die Ängste von Menschen auszunutzen.

Die Angst war groß, die Debatte auch. Warum ist das Thema nahezu aus der politischen Diskussion verschwunden?

Brumlik: Weil es tatsächlich nur im Wahlkampf ausgenutzt worden ist. Vor ein paar Wochen hat Roland Koch noch einmal die ein oder andere Strafvollzugsanstalt besucht und sich informiert, um jedenfalls nach außen hin so zu tun, als sei das Ganze mehr als lediglich ein Wahlkampf-Thema gewesen. Aber das war ja in Wahrheit überhaupt nicht der Fall. Tatsächlich, das haben auch die Urteilssprüche gegen die beiden Münchener Schläger gezeigt, sind alle möglichen Verschärfungen bereits im Rahmen des jetzigen Strafgesetzes bzw. des Jugendgerichtsgesetzes möglich.

Den Wahlkampf von Roland Koch beschreiben Sie in Ihrem Buch so: Er habe aus untauglichen Verschärfungen, aus hohlen und nicht haltbaren rechtspolitischen Verheißungen bestanden sowie auf einem massiven Etikettenschwindel beruht. Wie kommen Sie zu diesem harten Urteil?

Brumlik: Nehmen Sie etwa den dauernden Ruf nach Strafverschärfungen im Strafgesetzbuch oder im Jugendgerichtsgesetz. Die immer wiederholten Wünsche, junge Männer, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind, einfach abzuschieben. Die wahnwitzigen Fantasien über so genannte Erziehungslager – als ob es nicht bereits einen Jugendstrafvollzug gäbe, der das, was man tun kann, tut. Und als ob der durch weitere Verschärfungen im Sinne dieser US-amerikanischen Boot-Camps noch weiter verbesserbar wäre. Was, wie wir aus den Statistiken wissen, nicht der Fall ist. Es kommt hinzu, dass das, was in den USA praktiziert wird, mit dem deutschen Grundgesetz und seinem Schutz der Würde des Menschen überhaupt nicht vereinbar ist.

Kann so eine kontroverse Debatte nicht auch positive Auswirkungen haben? Dass die Menschen darüber sprechen etwa?

Brumlik: Es könnte etwas Positives mit sich bringen, wenn Öffentlichkeit und Politik sich ernsthaft daran machen würden, die sozialen Ursachen zu verändern. Aber es scheint so zu sein, als ob auch diese Thematik den schnelllebigen Medienkonjunkturen entspricht. Passiert ein furchtbares Verbrechen, so regt man sich kurzfristig auf. Und danach geht man wieder zur Tagesordnung über. Das ist Schade. Wir würden uns eine längerfristige strategische Umorientierung wünschen.

Auch in diesem Punkt üben Sie Kritik: Der BILD-Zeitung, die zeitgleich eine „Kampagne“ zum Thema gestartet hatte, werfen Sie unter anderem „Rassismus in Reinkultur“ vor. Was meinen Sie damit?

Brumlik: Ich habe mich da auf eine Kolumne bezogen von Franz Josef Wagner, der sich über Barack Obama ausgelassen hat und über eine Verwandte von ihm, die noch in einem Kral in Kenia wohne und nicht wisse, wie man mit Messer und Gabel isst. Also absolut unglaublich. Das hat mit dem Thema im engeren Sinne nichts zu tun, zeigt aber, was für ein Blatt die BILD-Zeitung ist. Wobei ich auch geschrieben habe, dass ich ihr das nicht mal unterstelle, so etwas immer gezielt einzusetzen. Sondern die BILD-Zeitung ist eine Projektionsfläche unbewusster, ungelüfteter Stimmungen in breiten Teilen der Bevölkerung, die von der Zeitung natürlich bedient und verstärkt werden.

Dennoch übernehmen Sie in ihrem Titel „Ab nach Sibirien?“ den Duktus der BILD-Zeitung. Ist das nicht widersprüchlich?

Brumlik: Nein. Wir haben in kritischer Weise einen negativen Slogan übernommen, um noch einmal zu demonstrieren, auf was für einem niedrigen Niveau das im letzten Jahr diskutiert worden ist. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass jemand, der Bücher eines renommierten, pädagogischen Verlages erwirbt, allen Ernstes glaubt, dass wir so etwas auch nur fordern würden oder auch nur auf den Gedanken anspielen würden.

In einem Kapitel geht es konkret um türkische Kinder und Jugendliche. Warum verdienen sie unsere besondere Aufmerksamkeit?

Brumlik: Weil – nach Ausweis der kriminologischen Studien von Christian Pfeiffer und seinem Institut – es leider so ist, dass eine bestimmte Form gewaltsamer Auseinandersetzungen vor allem in Familien, wo Eltern aus einer traditionalen, wir würden sagen: Unterschichtkultur aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind, höher ist als in anderen Immigranten-Milieus. Da gibt es nichts zu verheimlichen, nichts zu verleugnen, man muss die Dinge beim Namen nennen.

Ein Fazit des Kapitels: Nicht die türkische Herkunft, sondern belastende Lebensumstände sind für Jugendgewalt verantwortlich. Das ist eher wenig überraschend, oder?

Brumlik: In den letzten Tagen sind Studien heraus gekommen, die gezeigt haben, dass die Familien, die integrationswillig sind und sich haben einbürgern lassen, insgesamt erfolgreicher sind und dann auch eine geringere Neigung zur Jugend-Delinquenz ausweisen. Überraschend ist das Fazit also nicht. Aber es kommen eben mehrere Faktoren zusammen: Der Migrationshintergrund, aber auch dieses von prekären Lebenslagen gekennzeichnete Unterschichtenmillieu. Hier addieren sich Effekte nicht nur, sie multiplizieren sich.

Haben Sie denn das Gefühl, die Städte und ihre Politiker wissen, wo die Probleme liegen? Oder stochern sie eher im Nebel?

Brumlik: Ich glaube, die wissen das vergleichsweise gut. Es gibt kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Und da hängt nun Vieles mit dem mehrgliedrigen Schulsystem zusammen, mit der Hauptschule, die de facto eine Restschule ist und die mittlerweile in einigen von der CDU regierten Ländern zu Disposition gestellt wird.

Was kann ihrer Meinung nach konkret gegen Jugendgewalt getan werden?

Brumlik: Was uns nach vorne bringt, ist erstens die Einführung von Ganztagsschulen. Es ist zweitens ein Schulsystem, in dem die Kinder sehr viel länger gemeinsam zur Schule gehen, nicht aussortiert werden und sehr viel stärker individuell gefördert werden. Es ist drittens unerlässlich, dass Schulen sich mit den Eltern ins Benehmen setzen und darauf einwirken, dass der Medienkonsum zu Hause anders strukturiert wird. Dass dieser leichte Zugang zu Fernsehern, Spielkonsolen, Videofilmen und anderen etwas gebremst wird. Man muss Eltern auch mitteilen, dass es nötig ist, mit ihren Kindern über solche Produkte zu sprechen, sie also nicht nur einsam vor der Glotze sitzen zu lassen. Vor allem muss man darauf hinweisen, dass bei allen Erziehungsproblemen harte, körperliche Strafen das Falscheste sind, was man nur tun kann.

Zur Person

Professor Dr. Micha Brumlik lehrt seit dem Jahr 2000 Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt "Theorien der Bildung und Erziehung" an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Neben vielen Aufsätzen zu Fragen der moralischen Sozialisation und pädagogischen Ethik, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln erschienen von ihm neben vielen anderen Büchern "Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrunderts" und der von ihm herausgegebene Band "Vom Missbrauch der Disziplin".

Zum Thema Gewalt hat ein Gastautor geschrieben: „Die Jugend ist so gefährlich, wie wir, die Erwachsenen, unseren Kindern gefährlich werden – besonders in ihrer frühen Kindheit.“ Das stützt ja, was Sie gerade gesagt haben.

Brumlik: Völlig richtig. Je weniger Empathie, also Mitgefühl, in der Kindheit gezeigt wird, je stärker die Ablehnung und Feindseligkeit den Kindern gegenüber, umso weniger werden die Kinder später selbst in der Lage sein, Empathie gegenüber anderen zu empfinden.

Was kann man da ändern?

Brumlik: Wir können natürlich nicht die Eltern erziehen. Aber wir können uns in der Schule und in der Jugendarbeit mit Erziehungsfragen auseinander setzen. Im Schulunterricht ist es selbstverständlich, dass Kinder über Sexualität aufgeklärt werden. Aber wie man neugeborene Menschen in die Gesellschaft einführt, also wie man sie erzieht und bildet, das ist nicht mehr Gegenstand des schulischen Unterrichts. Das sollte aber unbedingt so sein.

Welchem Politiker würden Sie dringend die Lektüre Ihres Buches empfehlen?

Brumlik: Nun, dem noch amtierenden hessischen Ministerpräsidenten und vor allem auch seinem bayrischen Kollegen Beckstein und dem bayrischen Minister Huber, die sich ja beide immer wieder damit brüsten, dass eine Politik der Härte das Einzige sei, was im Umgang mit solchen Jugendlichen hilft.

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