Rom/Agrigent. Die Angeklagten im Prozess gegen die Hilfsorganisation Cap Anamur wurden in Sizilien freigesprochen. Die Verantwortlichen des Schiffes "Cap Anamur" hatten im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 Flüchtlinge aus der Seenot gerettet und ans sizilianische Festland gebracht.

Der in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagte frühere Vorsitzende der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, ist freigesprochen worden. Wie sein Anwalt Axel Nagler am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP telefonisch aus Italien mitteilte, sprach das Gericht im sizilianischen Agrigent auch den Kapitän des Schiffes «Cap Anamur», Stefan Schmidt, sowie den Ersten Offizier, den Russen Wladimir Dschkewitsch, frei. Die drei hatten im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und nach Sizilien gebracht.

Die italienische Staatsanwaltschaft hatte je vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400.000 Euro für Bierdel und den Kapitän gefordert sowie Freispruch für den Ersten Offizier.

Uraltes Menschenrecht wird beachtet

Cap Anamur sprach nach dem Urteil von einem «Erfolg für die Menschlichkeit». Die Rettung von Menschenleben dürfe nicht juristisch geahndet werden. «Rettung ohne Wenn und Aber in größter Not ist ein unumstößlicher Grundsatz von Cap Anamur», sagte die Vorsitzende der Hilfsorganisation, Edith Fischnaller. Der Gründer der Hilfsorganisation, Rupert Neudeck, begrüßte das Urteil. Er habe mit einem Freispruch gerechnet, sagte er AFP am Telefon. Alles andere wäre eine «Katastrophe für dass europäische Justizsystem» gewesen. Mit dem jetzt ergangenen Urteil seien gute Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das «uralte Menschenrecht» auf Rettung in Seenot Geratener in Europa beachtet werden müsse.

Auch Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul erklärte, dies sei ein guter Tag für alle, die sich in humanitären Fragen engagierten. «Wir dürfen vor dem Flüchtlingselend an den Toren Europas nicht die Augen verschließen», betonte sie. Auf dieses Elend aufmerksam gemacht zu haben, bleibe das Verdienst von Bierdel.

Bierdel steht zu seiner Aktion

Bierdel selbst stand trotz der drohenden Haft- und Geldstrafe stets zu seiner schlagzeilenträchtigen Aktion. Vorwürfe von Kritikern, er habe damals ein Medienspektakel inszeniert, wies er am Mittwoch erneut zurück. Selbstverständlich seien Fehler gemacht worden, weil man auf die Situation nicht vorbereitet gewesen sei, sagte er im «Deutschlandfunk». So habe man etwa zu viel Zeit gebraucht, bis ein geeigneter Hafen zum Anlaufen gefunden worden sei.

Dennoch habe er keinen einzigen Journalisten eingeladen oder an Bord geholt. «Sie kamen, weil sie schauen wollten, und ich bin bis heute der Meinung, dass wir das gar nicht anders machen konnten», erklärte Bierdel.

Der Ex-Cap-Anamur-Chef forderte in dem Interview die deutsche Regierung auf, bei den Flüchtlingsdramen auf See stärker Verantwortung zu übernehmen und ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. «Warum sollten wir nicht geradezu mustergültig für Europa zeigen, wie man menschenwürdig und professionell umgeht mit denen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen?», fragte er. Das sei aber ganz offensichtlich nicht erwünscht. Das mache ihn ein bisschen traurig, denn die Möglichkeiten wären ohne weiteres da.

Claudia Roth fordert, Teufelskreis zu durchbrechen

Die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, verlangte, den Teufelskreis, der Flüchtlinge dazu bringe, immer größere Gefahren auf sich zu nehmen endlich zu durchbrechen. Die beschämende Politik, Europa zu einer uneinnehmbaren Festung auszubauen, müsse beendet werden.

Die Internationale Liga für Menschenrechte will dem Kapitän am 13. Dezember in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihen. Zur Begründung hieß es, die Rettungsaktion sei ein herausragender Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte an den Grenzen der Europäischen Union gewesen.

Im Folgenden eine Chronik der damaligen Ereignisse:

Februar 2004: Die deutsche Hilfsorganisation nimmt ihr erstes eigenes Schiff in Betrieb: Die «Cap Anamur», die vom Containerfrachter zum Hilfs- und Rettungsschiff umgebaut wurde, macht ihre Jungfernfahrt in Richtung westafrikanische Küste.

20. Juni 2004: Die Besatzung sichtet auf offener See zwischen Libyen und der italienischen Insel Lampedusa ein mit 37 afrikanischen Flüchtlingen völlig überfülltes Schlauchboot mit Motorschaden. Die Männer werden an Bord genommen und medizinisch versorgt.

2. Juli 2004: Die italienischen Behörden widerrufen nach Angaben der Organisation überraschend eine Genehmigung, nach der die «Cap Anamur» mit den Flüchtlingen den Hafen Empedocle im Süden Siziliens anlaufen sollte. Das Schiff habe zuvor ein zu Malta gehörendes Seegebiet passiert - deshalb müssten Asylanträge dort gestellt werden, lautete die Begründung.

7. Juli 2004: Das Schiff darf weiter nicht im Hafen Empedocle anlegen. Nach Angaben der Organisation kreisen über der «Cap Anamur» Hubschrauber, um die Besatzung einzuschüchtern.

9. Juli: 2004: Die Vereinten Nationen mahnen schnelle Hilfe für die Flüchtlinge an und fordern die italienischen Behörden zum Einlenken auf.

11. Juli 2004: Das Flüchtlingsdrama spitzt sich zu. Der Kapitän der «Cap Anamur» setzt einen Notruf ab und steuert dann mit voller Fahrt den Hafen an, wird aber von der italienischen Küstenwache gestoppt.

12. Juli 2004: Das Rettungsschiff darf schließlich den Hafen anlaufen, die 37 Flüchtlinge können von Bord gehen. Wenige Stunden später folgt die überraschende Wendung: Die Behörden verhaften Cap-Anamur-Chef Elias Bierdel, Kapitän Stefan Schmidt und ein weiteres Besatzungsmitglied wegen Begünstigung illegaler Einwanderung und beschlagnahmen das Schiff. Die Flüchtlinge werden in Abschiebehaft gebracht.

13. Juli 2004: Die Verhaftung Bierdels belastet die deutsch-italienischen Beziehungen. Bundesentwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) fordert seine sofortige Freilassung. Auch andere Politiker kritisieren, die Lebensretter würden kriminalisiert.

16. Juli 2004: Die drei Cap-Anamur-Mitarbeiter werden wieder auf freien Fuß gesetzt, die Vorwürfe gegen sie bleiben aber bestehen.

17. Juli 2004: Bierdel kehrt nach Deutschland zurück. In Deutschland regt sich inzwischen auch Kritik am Vorgehen der Helfer, selbst von Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck: Die Besatzung habe auf See sechs Tage lang auf Kamerateams und Bierdel gewartet, was nach Geheimplänen rieche. Cap Anamur lebe aber von Transparenz.

22. Juli 2004: Die Debatte um das Flüchtlingdrama reißt nicht ab. Unterdessen werden 25 der Geretteten in ihre Heimat Ghana gebracht, sechs weitere werden wegen heftiger Gegenwehr aus der Maschine zurückgeholt. Fünf Nigerianer wurden schon zwei Tage zuvor ausgeflogen. Einer der Geretteten soll in Italien bleiben dürfen, weil er bei der Untersuchung der Fahrt des Flüchtlingsschiffs geholfen habe.

3. Oktober 2004: Die Organisation Cap Anamur wählt Elias Bierdel als Vorsitzenden ab, Edith Fischnaller wird seine Nachfolgerin.

18. Februar 2005: Die italienischen Behörden geben das Schiff «Cap Anamur» wieder frei. Zuvor hatte die neue Vorsitzende mitgeteilt, es solle künftig nicht mehr zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer eingesetzt werden.

27. November 2006: In Sizilien beginnt der Prozess gegen Elias Bierdel, den Kapitän sowie den ersten Offizier des Schiffs. Die Angeklagten weisen die Vorwürfe zurück.

7. Oktober 2009: Ein italienisches Gericht spricht Bierdel, den Kapitän und den ersten Offizier des Schiffs frei. (afp/ap)