Brüssel. . Die EU braucht eine neue Vision. Aber statt sich gemeinsam auf den Weg zu machen um ein europäisches Haus zu bauen, gewinnen die Miesmacher in Europa die Oberhand. Sie wettern gegen „Glühbirnen- und Duschkopf-Wahnsinn“ - obwohl sie selbst daran mitgewirkt haben. Eine Analyse zur Europawahl.

Es war am 15. September 2008, als der große Traum von Europa auf die Realität traf. An diesem Tag brach in den USA die Bank Lehman Brothers zusammen, Kathedrale, Götzenschrein und bevorzugter Tatort des Finanzkapitalismus. Es war der Auftakt zur größten Krise des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schockwellen brachten auch das Europäische Haus ins Wanken. Vermeintlich bebensicher und standfest errichtet nach deutschem Standard, erwies sich das Gebäude als plötzlich unsolide zusammengezimmert.

Die Krise, sagen Ökonomen und Politiker heute, ist nicht ausgestanden. Aber das Schlimmste liege hinter uns. Das mag stimmen, was die unmittelbare Gefahr im finanziellen Kernbereich angeht. Die „Programmländer“ Irland, Portugal, Zypern und Griechenland scheinen den Klassenerhalt in der Eurozone zu schaffen. Sie bekommen wieder frisches Geld an den Märkten. Weil die Europäische Zentralbank dafür geradesteht, aber auch weil sie sich unter dem erbarmungslosen Druck von Markt und Merkel zu einer solideren Haushaltspolitik durchgerungen haben. Viel bleibt noch zu tun, aber eine Menge wurde schon getan.

Die Krise hat den Euro-Ländern keine Wahl gelassen: In einer beispiellosen Kraftanstrengung mussten die gröbsten Konstruktionsfehler der Währungsunion repariert werden. Das gemeinsame Geld wurde mit einer stärker abgestimmten Finanz- und Wirtschaftspolitik bis hin zur „Banken-Union“ unterlegt. Ob das reicht, ob die neue Architektur künftige Turbulenzen übersteht, muss sich noch zeigen. Doch ein wenig Zuversicht ist wieder eingekehrt. Die jüngste Erhebung der Meinungsforscher des Pew-Instituts verzeichnet eine leichte Stimmungsaufhellung in den EU-Schlüsselländern.

Das scheint auf den ersten Blick die Bauernregel zu bestätigen, wonach Europa durch seine Krisen wächst und die europäische Integration die Form eines Hindernisrennens hat. Doch das wäre in diesem Fall Selbstbetrug. Denn die eigentliche, die tiefe Sinn- und Vertrauenskrise des Projekts Europa reicht weiter zurück als Lehman. Und sie hat sich nicht erledigt, selbst wenn sich „Fiskalpakt“ und „Bankenunion“ als Erfolg erweisen.

Das deutlichste Indiz dieser Verunsicherung ist der sich abzeichnende Triumph der Europa-Verächter und –Hasser bei den EU-Wahlen an diesem Wochenende. Im Straßburger Parlament werden bis zu 200 Abgeordnete an einer Veranstaltung mitwirken, die sie – und ihre Wähler – für einen Holzweg, wenn nicht überhaupt für Schwachsinn halten.

Wettern gegen „Glühbirnen- und Duschkopf-Wahnsinn"

Zugleich betreiben die Regierungen in London und Den Haag die Beerdigung der „immer engeren Union der Völker Europas“, zu der sich die EU-Staaten bislang einstimmig bekannt haben. Die sich weiter zu diesem Ziel bekennen, drohen zur Minderheit zu werden. Und wie viele mögen es sein, die noch hinter der Berliner Erklärung von 2007 stehen: „Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint“?

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Von diesem Glück ist nicht mehr viel zu spüren. Die Miesmacher und Miesepeter schwingen das große Wort, die Pro-Europäer sind ins Hintertreffen geraten. Im Europa-Wahlkampf wettern sie gegen „Glühbirnen- und Duschkopf-Wahnsinn“, obwohl sie selbst daran mitgewirkt haben.

Für die Skeptiker ist Europa eine Bedrohung, vor der man sich und andere schützen muss. Aber auch in den Worten seiner Befürworter ist es kein Ort mehr, wohin man will, sondern – eine ungeliebte Notwendigkeit. Muss halt sein. Der Brüsseler Kommissionschef Barroso verlangt, die EU möge sich „durch Resultate legitimieren“. Aber Europa kann nicht als Dienstleister und Lieferant allein gedeihen. Die Idee verkümmert im reinen Nutzwert-Denken. Ein Haus baut man nicht allein durch Überlegungen, wie viele Stockwerke es haben soll, wo Treppe und Balkon hingehören und welches Heizsystem das günstigste ist.

Was man zunächst und vor allem braucht, ist so banal, dass sein Fehlen den meisten gar nicht auffällt: Man braucht den starken Willen, ein Haus zu bauen. Alle Tüftelei an Konstruktionsmerkmalen führt zu nichts, wenn man nicht sicher ist, dass man Bauherr sein möchte. Ohne Entschlossenheit, Willen und kreative Begeisterung wird das Werk nicht werden.

Überdosis Gefühlspolitik

Ist das nicht hoffnungslos romantisch? Um nicht zu sagen spinnert? Nein. Sicher ist Misstrauen gegen eine Überdosis Gefühlspolitik angebracht, zumal aus deutscher Sicht. Aber wer Europa will, sollte sich klar machen, warum der Nationalstaat so verblüffend robust ist, obwohl an so vielen Stellen – längst nicht an allen – der Übergang zur europäischen Ebene offensichtlich zweckmäßig wäre. Er lebt nicht, weil den Politologen da ein sauberer System-Entwurf gelungen wäre. Er lebt, weil und soweit sich die Leute in ihm zuhause fühlen.

Kann man sich in Europa zuhause fühlen? Noch nicht so recht, obwohl Herr Putin dazu gerade einen Beitrag leistet. Aber Europa als Gemeinwesen existiert halt nur als das, was es erst im Ansatz gibt. Mehr wird daraus nur werden, wenn wir davon eine Vorstellung entwickeln und pflegen. In Sachen Europa sind Visionen kein Anlass, den Arzt aufzusuchen. Sie sind eine unentbehrliche Wegzehrung.