Essen. Thilo Sarrazin hat wieder zugeschlagen. Und wie so oft hat der Mann alle Rücksichten fahren lassen, die den Hütern der deutschen Diskurshoheit bei manchen Themen heilig sind. Die Neigung, im politischen Diskurs nur noch wohltemperierte Meinungen zuzulassen, macht allerdings langsam Sorge.
Thilo Sarrazin, der frühere Finanzsenator von Berlin, hat wieder zugeschlagen. Und wie so oft hat der Mann alle Rücksichten fahren lassen, die den Hütern der deutschen Diskurshoheit bei manchen Themen heilig sind. Die in Teilen missratene Integration von Einwanderern ist so ein Thema, dem sich am besten keiner nähern sollte, der nicht sehr differenziert argumentieren kann. Am besten ist es, so verschwurbelt zu reden und zu schreiben, dass am Ende keiner so recht weiß, was man eigentlich gemeint hat. Das tut dann keinem weh, und das ist bei diesem Thema das wichtigste, weit wichtiger als das Benennen unangenehmer Beobachtungen.
Was ist passiert? Ein SPD-Politiker, der heute bei der Bundesbank Dienst tut, sagt, dass er 70 Prozent aller Türken und 90 Prozent aller Araber im Berliner Migrantenmilieu für nicht integrationswilig hält. Obwohl sich Sarrazin aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit in Berlin auskennen müsste, dürfte das übertrieben sein. Es ist überhaupt falsch, Prozentangaben in die Welt zu setzen, für die es gar keine empirische Grundlage gibt.
Hallo? In welchem Land leben wir?
Aber im öffentlichen Diskurs ist vieles falsch, ohne dass es große Folgen hat. Es ist falsch zu sagen, dass „die“ Manager gierig sind, wie es in den letzten Monaten wohl tausendfach zu lesen und zu hören war. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Pronold hat sich sogar nicht entblödet zu behaupten „die“ Besserverdienenden seien Schuld an der Finanzkrise. Der Unterschied ist: Für Pronold gilt die Meinungsfreiheit, jedenfalls ist nichts Gegenteiliges bekannt geworden. Der Anfangsverdacht der „Volksverhetzung“ gegen so genannte Besserverdienende ist offenbar nicht gegeben. Gut so, auch dumme Dinge sollen gesagt werden dürfen. Bei Sarrazin aber prüft die Staatsanwaltschaft, ob er seine Meinung haben darf, sein Arbeitgeber will ihn loswerden. Hallo? In welchem Land leben wir?
Ein Satz wie: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“ ist eine Provokation. Die Sache mit den Kopftuchmädchen ist noch dazu geschmacklos. Niemand wird aber behaupten wollen, dass es den zugrunde liegenden Missstand so ganz und gar nicht gibt. Man kann es netter ausdrücken, aber das Problem ist vorhanden. Und es ist nicht Aufgabe einer Staatsanwaltschaft, den öffentlichen Diskurs zu steuern oder rhetorische Geschmacksfragen zu erörtern.
Gift für ein Gemeinwesen, das auf freier Rede aufbaut
Im politischen Diskurs gibt es eine klar zunehmende Neigung, bei bestimmten (und zwar nur bei bestimmten), als unangenehm empfundenen Themen nur noch wohltemperierte Meinungen zuzulassen. Das macht langsam Sorge. Es droht eine Gesellschaft, bei der nur noch die Nervenstarken offen und ohne den Schutz der Anonymität ihren Kopf aus der Grassnarbe heben. Es droht ein Meinungskonfektionismus, der alles hart und scharf Formulierte in Acht und Bann legt und „die Zonen des Unsagbaren immer weiter ausdehnt“, wie die FAZ formulierte. Das ist Gift für ein Gemeinwesen, das auf der freien Rede aufbaut.