Essen. . Die Diskussion um das Turbo-Abi ist derzeit auf dem Höhepunkt. Auch die Ganztagsschule gilt als Heilmittel gegen Schulstress. Die Autorin Christine Eichel hält von derartigen Strukturdebatten wenig. Für sie kommt es vor allem auf den Lehrer an. Im Interview mit dieser Redaktion erklärt sie, warum.

G8 oder G9, Ganztags- oder Halbtagsschule, dreigliedriges Schulsystem oder Gesamtschule: Seit Jahrzehnten wird die Schulstruktur verantwortlich für Stress, unglückliche Schüler und zu wenig Wissensvermittlung. Geht es nach der Autorin Christine Eichel, dann kommt es darauf gar nicht so sehr an. Der Lehrer sei entscheidend für den Schulerfolg, schreibt sie in ihrem Buch „Deutschland, deine Lehrer.“ Im Interview mit der WAZ begründet sie, warum.

Wenn es um Lehrer geht, dann fühlt sich nahezu jeder als Experte. Ziemlich mutig, über diese Berufsgruppe ein Buch zu schreiben.

Christine Eichel: Es stimmt, das Thema betrifft jeden. Entweder, man erinnert sich an alte Schulzeiten, ist selbst Lehrer, Schüler oder hat schulpflichtige Kinder. Diskussionen über Lehrer werden hierzulande sehr kontrovers geführt. Mir geht es aber nicht darum, Bashing zu betreiben. Ich möchte neue Impulse in eine alte Debatte bringen und nicht warten, bis die Politik endlich sinnvolle Reformen beschließt.

Aber Reformen hatten wir in der Vergangenheit zu genüge. Man denke nur an die neuen Schulformen wie Sekundarschule oder Gemeinschaftsschule, die Eingliederung von behinderten Kindern in den Regelunterricht oder an das Turbo-Abitur.

Diskussion um G8 führt zur allgemeinen Verunsicherung

Eichel: Diese Art von Reformen hat zur Verunsicherung und erhöhten Belastungen für alle geführt. Die Diskussion über G8 ist das beste Beispiel dafür. Vollends die Inklusion ist ein heißes Eisen. Die Lehrer fühlen sich damit restlos überfordert. Die eigentlichen Missstände im Bildungswesen werden von diesen Debatten überlagert.

Was meinen Sie?

Eichel: Viel zu viele verlassen die Schule ohne Abschluss oder mit zu geringen Lese- und Mathematikkompetenzen – rund 20 Prozent, wie aktuelle Studien zeigen. Und viel zu viele werden von den Schulen nicht genügend auf eine Ausbildung oder das Studium vorbereitet. Als Folge brechen 35 Prozent der deutschen Bachelor-Studenten das Studium ab. Es fehlt an Motivation und an eigenständigen Leistungen, jenseits sturen Paukens. Wenn Gymnasien nicht in der Lage sind, studierfähige Absolventen zu entlassen, muss man fragen, was da schief läuft.

Die Antwort findet man also bei den Lehrern? Tatsächlich haben sie keinen guten Ruf, gelten als faul, fühlen sich aber gestresst bis zum Burnout.

Eichel: Die Lehrer haben einen hohen Leidensdruck. Einerseits führt die Verbeamtung dazu, dass sie seit jeher als Staatsdiener wahrgenommen werden und nicht als Verbündete der Eltern. Das führt wiederum dazu, dass Lehrer sich nicht verpflichtet fühlen, jeden Schüler mitzunehmen. Kein Wunder, dass bei uns viele Schüler durch alle Raster fallen. In Ländern wie Finnland oder den USA ist das anders. Da gilt der Grundsatz: Kein Kind darf zurückbleiben.

Wer nicht mitkommt, wird zum Versager

Das hat doch vor allem mit dem System zu tun und nicht unbedingt mit dem Lehrer.

Eichel: Tatsächlich ist das System sehr selektiv: Wer nicht mitkommt, wird zum Versager, falls es an elterlicher Unterstützung oder Nachhilfe fehlt. Das System sieht keine persönliche, solidarische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler vor. Deshalb ist das Schulklima oft extrem defizitär. Darunter leiden auch die Lehrer, die keinen Teamgeist erleben, sich aufreiben und zu 60 Prozent in den Vorruhestand gehen. Doch auch ohne systemische Änderungen können sie selbst aktiv werden, wie zahlreiche positive Beispiele zeigen.

Was muss er nun können, der gute Lehrer?

Eichel: Er muss eine Lehrerpersönlichkeit sein, nicht nur ein Funktionsträger. Er muss für sein Fach brennen, gleichzeitig muss die Beziehungsqualität zum Schüler stimmen. Als Bezugsperson nimmt er alle Lernprozesse wahr und steuert sie. Er ist ein empathischer Coach, der ermutigt, kein strenger Kontrolleur. Dann schafft er es, dass der Schüler sich zutraut, die Anforderungen zu meistern. Laut einer Studie des Schulforschers John Hattie ist dies die wichtigste Voraussetzung für den Bildungserfolg. Gelingt dies, dann fühlt sich auch der Lehrer gut – und wird gesellschaftlich anerkannt.

Wo bleiben die Eltern dabei?

Eichel: Die Lehrer müssen auch sie viel stärker einbinden. In der Regel werden sie ausgegrenzt. Zweimal im Jahr dürfen sie auf kleinen Stühlchen beim Elternabend sitzen, während der Lehrer vor ihnen am Pult thront. Eltern werden im Prinzip wie unmündige Schüler behandelt, nicht als Partner. In anderen Ländern gibt es Hausbesuche und Elternstammtische.

Die Eltern der Rütli-Schule sind inzwischen engagiert 

Das hilft sicher den Kindern, deren Eltern auch sonst engagiert ihren Schulalltag begleiten. Wenn Eltern aber gar kein Interesse haben, werden sie womöglich noch stärker ausgegrenzt, und das verstärkt womöglich die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der Herkunft.

Eichel: Mit dieser Frage habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Die bundesweit in Verruf geratene Rütli-Schule in Berlin-Neukölln ist ein Beispiel dafür, wie konstruktive Elternarbeit funktioniert. Seit dem erfolgreichen Kurswechsel werden Familien zu Hause besucht, bevor es zu Konflikten kommt. Es gibt Elterncafés und Frühstücksrunden, die gerade von bildungsfernen Vätern und Müttern besucht werden. Damit wird übrigens auch vermieden, dass die sogenannten Helikoptereltern, die wie ein feindliches Geschwader bei jeder Kleinigkeit in die Schule einfliegen, zum belastenden Ärgernis werden. Leider ist es an den meisten Schulen üblich, dass Lehrer sich abschotten, weder Telefonnummern noch email-Adressen rausgeben. Und wenn Eltern den Unterricht miterleben wollen, werden sie abgeblockt. Selbst gegenseitig hospitieren Lehrer nicht – das Klassenzimmer ist ein closed shop.

Sie sind mit ihrer Forderung nach dem neuen Lehrer nicht allein. Auch Bildungsexperten betonen inzwischen, dass guter Unterricht und Schulklima wichtiger sind als neue Strukturen. Warum kommt das bei den Lehrern im Alltag nicht an? Als Eltern hat man das Gefühl, sie besuchten ständig Fortbildungen.

Eichel: Der Eindruck täuscht. Außerdem wünschen sich Lehrer vergeblich psychologische Begleitung und Supervision, um negative Emotionen und Sinnkrisen zu bearbeiten. Hinzu kommt: Wer im Studium nichts über Lernforschung oder Bindung zum Schüler gelernt hat, holt das auch nicht im Crashkurs nach.

Nach Studium und Referendariat kommt der Praxisschock

Womit wir bei der Ausbildung der Lehrer wären.

Eichel: Laut einer Allensbach-Studie fühlt sich jeder zweite Lehramts-Absolvent unzureichend auf den Schulalltag vorbereitet. Viele erleben einen Praxisschock. Weder im Referendariat noch während des Praxissemesters haben sie Gelegenheit, moderne Unterrichtsmethoden umzusetzen und Schüler besser kennen zu lernen. Angehende Lehrer werden in der Schule sogar häufig angehalten, ein altmodisches Autoritätsverständnis durchzusetzen, das belastende Frontenbildungen begünstigt.

Brauchen wir in Deutschland, wo ein beispielloser Bildungs-Wirrwarr herrscht, nicht erst einmal eine einheitliche Struktur, bevor wir uns um die Lehrer kümmern?

Eichel: In der Tat ist es absurd, dass jedes Bundesland eigene Bildungsstandards und Lehrpläne hat. Die Kulturhoheit der Länder halte ich für einen Anachronismus. Dennoch brauchen wir zunächst einmal einen Bewusstseinswandel in den Schulen, und der beginnt bei den Lehrern. Sie müssen den ersten Schritt tun und für ein besseres Schulklima sorgen – für motivierte, teamfähige Schüler, die Lernen als bereichernd erleben.

Christine Eichel: Deutschland, deine Lehrer. Warum sich die Zukunft unserer Kinder im Klassenzimmer entscheidet. Karl Blessing Verlag 2014, 447 Seiten, 19,99€.