Kiew. Die Gegner der bisherigen Regierung haben die Macht in der Ukraine übernommen. Präsident Viktor Janukowitsch hat Kiew verlassen, das Parlament erklärt ihn für abgesetzt und hat einen Übergangspräsidenten gewählt. Julia Timoschenko ist nach mehr als zweieinhalb Jahren Haft frei.

Das ukrainische Parlament hat seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten bestimmt. Die Abgeordneten votierten am Sonntag dafür, die Vollmachten des Staatsoberhaupts vorübergehend auf ihn zu übertragen. Turtschinow gilt als Vertrauter von Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Der 49-Jährige hatte einst gemeinsam mit Timoschenko die Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) gegründet.

Die Oberste Rada hatte am Vortag den bisherigen Staatschef Viktor Janukowitsch für abgesetzt erklärt und Neuwahlen für den 25. Mai angesetzt. Dann will auch die aus der Haft entlassene Timoschenko kandidieren. Janukowitsch hat bisher nicht seinen Rücktritt erklärt.

In einem nächsten Schritt will das Parlament eine Übergangsregierung bestimmen. Turtschinow hatte die Abgeordneten dazu aufgefordert, sich bis Dienstag auf ein "Kabinett des nationalen Vertrauens" zu einigen.

Tränen und Siegesfeiern liegen in Kiew in diesen Stunden nur wenige Hundert Meter auseinander. Stolz ziehen Kämpfer der Opposition durch das Regierungsviertel. Zum Schutz vor Übergriffen auf das Parlament bilden sie einen Wall mit Schilden. Das Signal: Alles läuft geordnet, es gibt kein Chaos. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, trauern Tausende um die Dutzenden Toten der vergangenen Tage.

Zunächst aber ist Präsident Viktor Janukowitsch im Amt, auch wenn das Parlament ihn für abgesetzt erklärt - und Neuwahlen für den 25. Mai angekündigt hat.  Aus dem russland-nahen Osten des Landes hetzt der geflohene Staatschef, seine Gegner seien Nazis. Einen Rücktritt schließt er klipp und klar aus. "Ich werde das Land nicht verlassen, ich habe nicht vor zurückzutreten", sagte er in einer Fernsehansprache und beklagte einen "Staatsstreich". Vom Parlament verabschiedete Gesetze nannte er "rechtswidrig". Der neu gewählte Übergangspräsident Alexander Turtschinow teilte später mit, Janukowitsch habe ein Flugzeug nach Russland nehmen wollen, sei aber vom Grenzschutz daran gehindert worden. Er halte sich in der östlichen Region Donezk "versteckt".

Julia Timoschenko nach mehr als zweieinhalb Jahren Haft frei

Doch die Realität überrollt ihn. Fast im Minutentakt verlassen Mitglieder der Regierungspartei die Fraktion. Polizei, Armee, Spezialeinheiten - alle versprechen, sich nicht in den Machtkampf einzuschalten. Der Noch-Präsident hat so gut wie keine Verbündeten mehr.

Und die vielleicht schmerzhafteste Nachricht für Janukowitsch: Seine Erzfeindin, die Oppositionsführerin Julia Timoschenko, ist frei. Am Samstagnachmittag hatte sie das Krankenhausgelände in der Stadt Charkow in einem Auto verlassen - und eilte sofort nach Kiew: Dort forderte sie die Demonstranten zur Fortsetzung ihrer Proteste auf. "Verlasst den Maidan nicht, solange Ihr nicht erreicht habt, was Ihr wolltet", rief Timoschenko am Samstagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz rund 50.000 Menschen zu. Die Politikerin hat starke Rückenbeschwerden, sie wurde im Rollstuhl auf den Platz geschoben. Wie so oft trug sie ihre markante blonde Flechtfrisur und gab sich kämpferisch.

"Wenn euch jemand sagt, dass es zu Ende ist und Ihr nach Hause gehen könnt, glaubt ihm kein Wort", rief Timoschenko. "Ihr müsst die Arbeit beenden." Weinend sagte sie an die Demonstranten gerichtet: "Ihr seid Helden, Ihr seid die Besten der Ukraine!"

Timoschenkos Freilassung wurde von den USA, der EU und Frankreich sowie in Berlin begrüßt. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärte, Timoschenko trage "große Verantwortung für die Zukunft ihres Landes". Die frühere Regierungschefin war 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Sie ist eine erklärte Rivalin von Viktor Janukowitsch, gegen den sich auch die Massenproteste der vergangenen Monate gerichtet hatten.

Sicherheitskräfte in Kiew nicht zu sehen

Das Parlament der Ex-Sowjetrepublik hatte zuvor für die sofortige Freilassung der früheren Regierungschefin gestimmt. Die frühere Regierungschefin ist die beliebteste Politikerin im Land, und sie will bei der nächsten Parlamentswahl antreten. Schon jetzt sagen ihr Experten einen Triumph bei Neuwahlen voraus.

In Kiew übernimmt derweil das Volk die Stadt - Sicherheitskräfte sind nicht zu sehen. Massen strömen ins Zentrum. Viele haben Blumen bei sich und legen sie auf die Barrikaden, an denen noch vor kurzem tödliche Schüsse fielen. Schweigend steht die Menge trauernd auf dem großen Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan. Priester sprechen Gebete für die Opfer. Auf einem Hügel bilden Windlichter die Worte "Ehre den Helden". Alle halten inne. Männer entblößen ihr Haupt. Zwei ältere Frauen weinen bitterlich und halten sich aneinander fest.

Rote Nelken markieren die Spur des Bluts

Auf dem Weg zum Regierungsviertel markieren rote Nelken die Spur des Bluts. Unbekannte Scharfschützen hatten hier gezielt auf Menschen geschossen. Vor dem Präsidentensitz steht eine metallene Absperrung in den blau-gelben Landesfarben. Dahinter haben sich Mitglieder der sogenannten Selbstverteidigungskräfte mit Schilden und Helmen aufgebaut. Eine ältere Frau sagt stolz: "Alles unsere Jungs". Die Kämpfer grinsen und schieben den Helm noch ein Stück in den Nacken.

Vor dem Parlament hat sich eine Menschenmenge versammelt. Hunderte warten auf die Entscheidungen im Inneren. Eine Gruppe selbst ernannter Selbstverteidiger sitzt auf einem Laster mit der rot-schwarzen Fahne der ukrainischen Nationalisten. Passanten fragen: "Jungs, wo fahrt ihr hin?". "Wir besuchen Janukowitsch", ruft einer der übermütigen jungen Burschen zurück.

Durch Janukowitschs Residenz strömen Schaulustige

An den Barrikaden am Dynamostadion, an denen seit Mitte Januar immer wieder gekämpft wurde, räumen junge Freiwillige auf. Die Straße ist gefegt, der angrenzende Park wird gereinigt, rasch ist eine Menschenkette gebildet. Rücksichtsvoll lassen die Demonstranten die Passanten durch. Die Wache auf der Barrikade hört Nachrichten. Jubel brandet auf, wenn neue Parlamentsentscheidungen publik werden.

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Keine 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt: Auch durch Janukowitschs Residenz Meschigorje strömen Schaulustige. Überstürzt, mit wenigen Vertrauten und Leibwächtern, soll Janukowitsch in der Nacht aufgebrochen sein. Nun lassen die Wachen jeden herein, der einmal gucken möchte, wie der Präsident lebt, dem Kritiker Korruption und Vetternwirtschaft vorwerfen. "Aber bitte nicht plündern", sagen sie noch. Viele Besucher an diesem "Tag der offenen Tür" sehen sogar ihre kühnsten Vorstellungen noch übertroffen.

Sollten Dokumente im See vernichtet werden?

Da gibt es einen riesigen Golfplatz, wo behelmte Kämpfer den Schläger schwingen. Da gibt es ein riesiges Segelschiff, eine gewaltige Jacht, ein flottes Motorboot. Schwere Goldmünzen mit Janukowitschs Antlitz. Eine gewaltige Garage voller Luxuswagen. Edle Badezimmer, gar eine Orangerie - es ist ein Anwesen voller Dekadenz und Pracht.

Doch die Schaulustigen, darunter viele Journalisten, finden noch mehr. Aus einem See fischen sie Dokumente, die offenbar eilig vernichtet werden sollten, und trocknen sie in einer Halle. Es sind Listen über horrende Ausgaben, wohl für Renovierungen und Angestellte.

Aber es sind anscheinend auch Dokumente über Personen zu finden, die Janukowitsch als seine Gegner betrachtet. So soll der Name von Tatjana Tschornowol auf einer Schwarzen Liste von Reportern stehen. Unbekannte hatten die investigative Journalistin Ende Dezember massiv verprügelt und lebensgefährlich verletzt. Tschornowol wirft Janukowitsch vor, hinter der brutalen Attacke zu stecken. (dpa)