Essen. Deutschland wird von einer Masernwelle überrollt. Doch die Impfstoffe, die diese Kinderkrankheit aufhalten könnten, gehen aus. Während die Politik sagt, es gebe grundsätzlich kein Problem, sprechen Apotheker vom Gegenteil. Sie kennen auch den Grund der Knappheit: Es gibt immer weniger Hersteller.
Eine alte Kinderkrankheit geht um. 2013 erkrankten 1775 Patienten in Deutschland an Masern. Es ist die stärkste Welle seit sieben Jahren, sagt das bundeseigene Robert-Koch-Institut. Und jetzt das: Der Impfstoff geht aus.
Hersteller GlaxoSmithKline meldet „Herstellungsprobleme“. Freigabe und Auslieferung der Medikamente Priorix-Tetra und Varilrix sind gestoppt – mindestens bis zum 2. Quartal. Es gibt ähnliche Arznei. „Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese den Bedarf nicht vollständig kompensieren können“, schreibt die Ärzte-Zeitung.
Gibt es eine Medikamenten-Knappheit? Politik und Experten streiten. Das NRW-Gesundheitsministerium hat „keine Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Gefährdung der Versorgung mit notwendigen Arzneimitteln“ im Land. Sprecherin Nalan Öztürk: Ja, immer habe es Einzelfälle gegeben. Doch „auch da standen nach unserer Information Therapiealternativen zur Verfügung“.
Lieferengpässe allgemein ein Problem
Rolf-Günter Westhaus sieht das kritischer. Lieferprobleme? „Keine Einbildung“, sagt der Sprecher des Apothekerverbandes in Essen. Es gehe keineswegs nur um Impfstoffe. Schilddrüsenpräparate seien davon so betroffen wie Bluthochdruckmittel und – in Klinikapotheken – Krebsarzneien. Selbst Antibiotika geraten auf die Liste der fehlenden Ware.
Apotheker Westhaus weiß, dass das Angebot eines Alternativpräparates nicht immer die gewünschte Wirkung hat. Oft käme die Psychologie ins Spiel: Gerade Ältere nehmen ungern Mittel ein, die in anderer Form oder Verpackung daherkommen. „Das landet oft im Müll“, sagt Westhaus.
Erste Warnungen vor Engpässen schon 2006
2006 gab es erste Warnungen vor Lieferengpässen. Im letzten Jahr konnte Hersteller Novartis in drei Bundesländer Grippeimpfstoffe nicht rechtzeitig ausliefern, aus Hamburg und Schleswig-Holstein wurde von teils chaotischen Szenen in Arztpraxen berichtet.
Und nach einer 2013 erstmals angelegten Liste des Bonner Bundesinstituts für Arzneimittelsicherheit, die nur durch freiwillige Meldungen der Pharmabranche gespeist ist, sind aktuell fünfzehn verschreibungspflichtige Humanarzneimittel nicht erhältlich. Es sind Mittel zur Behandlung lebensbedrohlicher oder schwerwiegender Erkrankungen, für die auch kein Alternativpräparat da ist.
Wie kommt es zu den Lücken – wie ernsthaft sie auch sein mögen?
Die Zahl der Hersteller sinkt. Oft ist da nur noch einer. Gerade vier produzieren Kinder-Impfstoffe für den deutschen Markt. Die Akademie für Kinder- und Jugendmedizin spricht von einem „immer geringeren Angebot“. Da Produktionsstätten zunehmend, qualitativ unanfechtbar, zum Beispiel in Indien liegen, sind längere Lagerzeiten beim Zoll möglich. „Ein weiterer Grund für andauernde Versorgungsmängel sind profitorientierte Entscheidungen einzelner pharmazeutischer Unternehmen, Arzneimittel vom deutschen Markt zu nehmen“, heißt es in einem Papier der SPD-Bundestagsfraktion.
Problem Rabattverträge
Vor allem: „Durch die Rabattverträge zwischen den Kassen und den Herstellern sind Medikamente schnell ausverkauft“, sagt Verbandssprecher Westhaus. Rabattvertrag bedeutet: Die Krankenkassen wählen einen Hersteller aus, der günstig anbieten kann.
Dieses Produkt darf der Kassenarzt verschreiben. Ist es nicht erhältlich, kann er auf Alternativen zurückgreifen. Wobei eine veränderte Wirkstoffzusammensetzung nicht ausgeschlossen ist – und erst recht nicht die andere Verpackung.
In Berlin zieht Schwarz-Rot im Koalitionsvertrag eine Reißleine: „Beim Abschluss von Rabattverträgen müssen die Partner die Versorgungssicherheit gewährleisten, indem sie Maßnahmen gegen Lieferengpässe vereinbaren. Das gilt besonders für Impfstoffe.“