Bagdad. In diesem Jahr kamen bei Anschlägen im Irak mehr als 6650 Menschen ums Leben – so viele wie zuletzt 2008. Warum das Zweistromland zwei Jahre nach Abzug der letzten US-Soldaten keine Ruhe findet.

Im März 2003 marschierten die Amerikaner und ihre Verbündeten im Irak ein. Der Diktator Saddam Hussein wurde hingerichtet, die letzten US-Soldaten verließen Ende 2011 das Zweistromland. Statt eines demokratischen Irak hinterließen sie einen Staat, der nicht zur Ruhe kommt: In diesem Jahr kamen bei Terroranschlägen und Gefechten mehr als 6650 Iraker ums Leben – so viele wie zuletzt 2008.

Wer kämpft gegen wen?

Die schiitische Mehrheit und die sunnitische Minderheit stehen sich feindlich gegenüber. Bis 2003 regierten die Sunniten unter Saddam Hussein das Land. Seit 2006 ist der Schiit Nuri al Maliki Regierungschef. Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt.

Damit wollen sich viele Sunniten nicht abfinden. Nun kämpfen radikale Sunniten gegen die neuen Machthaber. Ministerpräsident Maliki lässt seine Sicherheitskräfte nicht nur gegen sie mit harter Hand durchgreifen. Auch gemäßigte sunnitische Politiker werden verfolgt. Ende April ließ die Regierung in Hawidscha in der Provinz Kirkuk ein sunnitisches Protestlager gewaltsam räumen. Die Polizeiaktion endete in einem Massaker: Mehr als 40 Zivilisten kamen ums Leben. Daraufhin häuften sich Attentate auf Schiiten. Schon zuvor hatten Terroristen nach dem zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns eine Anschlagsserie begonnen. Nach wie vor verstehen sich Iraker zuerst als Schiiten, Sunniten und (im ölreichen Norden) als Kurden. Die Gefahr, dass der Staat zerfällt, ist nicht gebannt.

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Welche Rolle spielt Al Kaida?

Militante sunnitische Islamisten stecken hinter den meisten Anschlägen im Irak. Sie wollen mit der Welle der Gewalt einen neuen Bürgerkrieg entfachen. Sie wenden dabei eine neue Taktik an und überfallen Gefängnisse. Der spektakulärste Überfall ereignete sich in der Haftanstalt von Abu Ghraib, in der einst US-Soldaten irakische Häftlinge misshandelten. Bei dem Angriff im Juli kamen Selbstmordattentäter, Raketen und Granatwerfer zum Einsatz. Mehrere 100 Häftlinge entkamen. Unter ihnen waren auch Al-Kaida-Führer. Viele Gefangene flohen angeblich nach Syrien, um sich dort den Aufständischen anzuschließen. Andere sollen nach Bagdad gegangen sein, um dort Anschläge zu verüben. Es folgte einer der blutigsten islamischen Fastenmonate im Irak. Über 700 Menschen kamen während des Ramadan 2013 um, die meisten waren Schiiten.

Beschränkt sich der Terror auf Bagdad?

Die neue Terrorwelle hat das ganze Land überrollt. Das gilt auch für den Nordirak. Im Herbst kam es zu einem Anschlag in Erbil in der autonomen Kurdenregion. Die neue Gewalt hat aber stärker mit dem Bürgerkrieg im benachbarten Syrien zu tun. Dort kämpfen immer wieder Kurden gegen sunnitische Islamisten – obwohl sie eigentlich alle gegen den syrischen Präsidenten Assad sind. Die kurdische Regierung, die tausende Flüchtlinge aus Syrien aufnahm, half dabei, Kurden für den Einsatz gegen die Dschihadisten und das syrische Regime auszubilden. Dadurch zog sie den Zorn der radikalen Islamisten auf sich.

Welchen Einfluss hat der syrische Bürgerkrieg auf den Irak?

Der Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien hat die Spannungen im Irak verstärkt. Der Schiit Maliki steht auf der Seite des syrischen Präsidenten Assad. Die Sunniten (und die Kurden) sind auf der Seite der Regimegegner. Maliki lässt zwar – anders als der Iran – nicht mit eigenen Truppen in den syrischen Bürgerkrieg eingreifen. Aber in der Arabischen Liga wehrt Maliki Versuche ab, den Druck auf den syrischen Präsidenten zu erhöhen. Der syrische Bürgerkrieg verstärkt die konfessionellen und ethnischen Spannungen im Irak. Die Schiiten fürchten das Ende des Assad-Regimes in Damaskus, denn am Ende könnten dort die Sunniten die Macht übernehmen. Genau darauf spekulieren die irakischen Sunniten.

Warum ist die Überlappung der Konflikte im Irak und in Syrien so gefährlich?

Im Irak wie in Syrien gewinnt die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien“ (Isis) an Boden. Sie kennt in ihrem fanatischen Kampf keine Grenzen. Ihr Anführer Abu Bakr al Baghdadi war für den Angriff auf das irakische Gefängnis in Abu Ghraib verantwortlich. Inzwischen hat er das von ihm kontrollierte Gebiet aus der irakischen Provinz Anbar bis in die die syrische Stadt Raqqa ausgeweitet, so das „Time“-Magazin. Keine andere Al-Kaida-Gruppe weltweit kontrolliert ein so großes Gebiet, zu dem auch die Millionenstadt Mossul gehört. Mit mehr als 7000 Kämpfern unter seinem Kommando fühlt sich Baghdadi offenbar so mächtig, dass er sich selbst von Al-Kaida-Chef Aiman al Zawahiri nichts sagen lässt. Der hatte ihn vergeblich ermahnt, den Bürgerkrieg in Syrien den Dschihadisten der Nusra-Front zu überlassen.

Was bedeutet das für den Westen?

Die Mitglieder der Terrororganisation Isis wollen sich offenbar nicht nur auf den Nahen Osten beschränken. Sie diskutierten über „externe Operationen“ gegen westliche Ziele, warnte kürzlich Mike Rogers, Vorsitzender des Geheimdienstausschusses im US-Repräsentantenhaus. Ihn erinnere das an die Zeit in Afghanistan, als dort die Pläne für die Anschläge am 11. September 2011 reiften, zitierte das „Time“-Magazin Rogers. Im nationalen Antiterrorzentrum der USA ist man besorgt darüber, dass sich immer mehr Kämpfer aus dem Westen der Terrorgruppe anschließen: Sie könnten für Attentate gegen westliche Ziele eingesetzt werden. Den Isis-Kämpfen in Syrien schlossen sich in zweieinhalb Jahren so viele ausländische Kämpfer an wie in Afghanistan in zweieinhalb Jahrzehnten, schrieb „Time“.