Ankara. . Auch nach der Entdeckung üppiger Bargeld-Funde in Privatwohnungen von Angehörigen hochrangiger Politiker spricht Recep Tayyip Erdogan noch von einem „Komplott dunkler ausländischer Kräfte“. Doch warum tauscht der türkische Premierminister dann fast das halbe Kabinett aus? Eine Analyse.

Ist wirklich nichts dran an den Korruptionsvorwürfen in der Türkei? Sind sie Erfindungen von „Verrätern und Spionen“, wie Ministerpräsident Tayyip Erdogan behauptet? Wäre es so, hätte er wohl kaum die belasteten Minister bei der Kabinettsumbildung am Mittwoch gefeuert.

Schuhkartons voller Dollar-Millionen in der Wohnung des Chefs einer Staatsbank, dicke Banknotenbündel und eine Geldzählmaschine im Haus eines Ministersohns: Diese Indizien sprechen eine deutliche Sprache. Erdogan wittert ein „Komplott dunkler ausländischer Kräfte“.

Doch das klingt jetzt genauso unglaubwürdig wie während der Massenproteste vom vergangenen Sommer, hinter denen die Regierung ebenfalls Drahtzieher aus dem Ausland vermutete.

Erdogan zeigt zunehmend Nerven

Jetzt scheint die Verschwörungs-Hysterie keine Grenzen mehr zu kennen: Regierungsnahe Zeitungen fordern den US-Botschafter auf, das Land zu verlassen, Erdogan droht Diplomaten mit Ausweisung. Zugleich versucht der Premier, mit Säuberungen im Polizeiapparat und in der Justiz die Ermittlungen abzuwürgen und weitere Enthüllungen zu verhindern.

Das zeigt: Erdogan beginnt offenbar die Nerven zu verlieren. Zumal jetzt auch Angriffe aus den eigenen Reihen kommen: Umwelt- und Bauminister Bayraktar, dem Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Baugenehmigungen vorgeworfen werden, verzichtete zwar unter Erdogans Druck auf sein Amt, forderte aber den Premier auf, ebenfalls zurückzutreten: Alles sei auf Erdogans Anweisung geschehen. So hat bisher kein Minister den allmächtigen Premier, der wie ein Sultan regiert, bloßgestellt – Götterdämmerung in Ankara.

Präsident Gül warnt vor Eingriffen in die Ermittlungen der Justiz

Nach anfänglichem Schweigen hat sich jetzt Staatspräsident Abdullah Gül zu der Affäre geäußert – wie meist bedacht und mäßigend. Gül versprach, nichts werde vertuscht. Und er mahnte, die Justiz ungehindert ihre Arbeit machen zu lassen.

Gül wird eine Nähe zu Fetullah Gülen nachgesagt, jenem islamischen Kleriker, den Erdogan als treibende Kraft hinter den Korruptionsermittlungen vermutet. Gülen steuert aus seinem selbstgewählten Exil in den USA ein globales Netzwerk von Bildungseinrichtungen, Wohltätigkeitsorganisationen und Medienunternehmen.

In der Türkei hat der Reform-Prediger Millionen Anhänger, viele von ihnen sitzen an Schaltstellen des Polizeiapparats und der Justiz. Gülen mag seine eigene Agenda verfolgen, aber das macht die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung nicht weniger brisant.

Weiße Weste mit dunklen Flecken

Sie treffen Erdogans Partei ins Mark. Deren Initialen „AK“ stehen nicht nur für Adalet (Gerechtigkeit) und Kalkinma (Entwicklung). Ak bedeutet auch weiß, rein. Mit dem Versprechen, Bestechung und Vetternwirtschaft auszumerzen, konnte die erst ein Jahr zuvor gegründete AKP 2002 einen Erdrutschsieg einfahren.

Die weiße Weste, mit der sich Erdogan gern brüstet, hatte schon in früheren Jahren immer mal wieder dunkle Flecken bekommen. Aber die Vorwürfe, um die es jetzt geht, stellen alles in den Schatten. Bewahrheiten sie sich, könnte das der Anfang vom Ende der AKP und ihres Stars Erdogan sein.

Folgen für Europa?

Was bedeutet das für die europäische Perspektive der Türkei? Schon vor dieser Affäre konnte niemand ernsthaft behaupten, die Türkei sei reif für einen Beitritt zur EU. Dazu sind die Demokratie-Defizite noch viel zu groß.

Aber es hapert nicht nur an den rechtsstaatlichen Strukturen. Wenn jetzt Vizepremier Bülent Arinc kritisiert, dass der für die Polizei zuständige Innenminister „als letzter“ von der Festnahme seines Sohnes erfahren habe, dann zeigt das: Manche in Ankara haben den Gedanken der Gewaltenteilung, ein Grundprinzip der Demokratie, offenbar überhaupt noch nicht verstanden.

Die EU äußerte bereits Besorgnis und ermahnte die türkische Regierung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung zu wahren. Europa muss jetzt sehr genau beobachten, wie Erdogan mit den Vorwürfen umgeht. Die Korruptionsaffäre wird zum Prüfstein für die künftigen Beziehungen des Landes zur EU.